Von Gabriele Dold-Ghadar | „Zuwanderung bereichert“ lautete das Motto des Bundesbildungs-ministeriums zum „Wissenschaftsjahr 2013“ angesichts des Ressentiments der „einheimischen“ Bevölkerung gegenüber den damals zuwandernden ausländischen Bevölkerungsanteilen. Das Phänomen „Wanderung“ und „Massenvertreibung“ hat in der Menschheitsgeschichte permanent „Konjunktur“ und anhaltende Aktualität. So spricht Migrationsforscher Timo Tonassi in einem Spiegel-Interview vom 20.09.2019 nicht nur über „Chancen“, „Leitkultur“, „westliche Werte“, „Anpassung“ und potenzielle Konfliktthemen, sondern auch über die diesbezügliche Perspektive der „Alteingesessenen“ und konstatiert, dass man bislang nur wenig über die Sicht derjenigen wisse, die in den vergangenen Jahren hierhergekommen sind. Diese Lücke könnte Jan Assmann schließen, der am Beispiel der sogenannten lieux de mémoire (Mnemotope, Orte der Erinnerung) eine kollektive Mnemotechnik aufzeigt, mit der emigrierte Gruppen oder Individuen außerhalb ihres Herkunftslandes ein sogenanntes „portatives Vaterland“ schaffen und mit Hilfe einer „verinnerlichten und vergeistigten Form von Identität“ in die Lage versetzt werden, dadurch die „Grenzen zwischen Heimat und Fremde in einen anderen als den geographischen Raum“ zu ziehen.[1]
Die sogenannten „Alteingesessenen“ hierzulande entstammen tatsächlich selbst oft aus damals ungeliebten „Zuwandererfamilien“, die ab 1945 am Ende eines verlorenen Krieges massenhaft in Flüchtlingstrecks nach Westen (zurück-)strömten. Die im zerbombten Nachkriegsdeutschland von einem niedersächsischen Pfarrer als hungrige „Kartoffelkäfer“ abgestempelten Flüchtlinge lassen sich kaum mehr mit den „Vorzeigemarken des neuen Aufschwungs“ in Verbindung bringen, als die sie später die sogenannte „Boom-Gesellschaft“ bezeichnete.[2]
Migration ist vielschichtig und nachhaltig. Nicht nur in der neueren Geschichte Deutschlands. Und sie bezieht sich nicht allein auf die Menschen, die sich über weite Distanzen bewegen, sondern auch auf das mit ihnen gewanderte Kulturgut, die reziproke Akkulturation und ihre Auswirkungen auf „Geber“- und „Nehmerkultur“. Nach George Foster treffen sich Kulturen niemals, sondern nur Menschen, die sie tragen. So spiele innerhalb einer interkulturellen Kommunikation der Umfang präsentierter migrierter Elemente und deren Interpretation seitens des „Empfängers“ eine große Rolle und selbst das wenige, das „Überträger“ durch die verhüllende Fassade an die Rezipienten preisgäben, könne wenig bis gar keine transkulturelle Bedeutung haben. Dagegen könne eine Kontaktsituation neue Ideen und Dinge hervorbringen, die nicht Teil der vorher existierenden Kulturen waren und „Empfänger“-Völker erheblich beeinflussen.
http://spektrum.irankultur.com/wp-content/uploads/2020/09/8-Von-Balch-bis-Tanga.pdf
[1] Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 1999, S. 213 ff
[2] Christian Habbe, Der zweite lange Marsch, in: Stefan Aust/Stephan Burgdorff (Hrsg), Die Flucht, Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Bonn, 2005, S. 244 ff.