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Vom Westen geschlagen? Zur heutigen Rezeption von ʿAli Šarīʿatī und Āl-e Aḥmad in Iran

Katajun Amirpur, Professorin der Islamwissenschaft an der Universität Köln

Im Jahre 1962 erschien in Iran das Büchlein, das viele der später von Edward Said (1935-2003) in dessen Orientalismformulierten Gedanken vorwegzunehmen scheint: Ǧalāl-e Āl-e Aḥmads Ġarbzadegī. Während Saids Orientalism nach seinem Erscheinen 1978 heftige Debatten auslöste, weil es „dem Westen“ vorwarf, den Orient zu konstruieren und als statisch zu betrachten und eine Kausalbeziehung herstellte zwischen westlicher Identitätsfindung, Darstellung des anderen und Macht, hatte Ᾱl-e Aḥmad (1923-1969) mit Ġarbzadegī das für Iran wichtigste und identitätsbildendste west-kritische Buch der sechziger Jahre geschrieben, das zum rhetorischen Warenbestand aller Intellektuellen jener Jahre zählte. In ähnlicher Weise wie Said machte Ᾱl-e Aḥmad „dem Westen“ zwar den Vorwurf, den Orient zu konstruieren, betrieb jedoch auch seinerseits eine Essentialisierung „des Westens“. Was er tat, würde Ṣādiq al-ʿAẓm als „orientalism in reverse“ bezeichnen.

In seinem Artikel „Orientalism and Orientalism in Reverse“ argumentierte al- ʿAẓm 1981, dass Intellektuelle und Wissenschaftler in der arabischen Welt sich darüber bewußt sein sollten, dass auch sie Orientalismus betreiben könnten – aber eben im umgekehrten Sinne. Die Malaise des Orientalismus, die für ihn natürlich aus dem Westen kam, reproduziere sich, wenn man sie auf dieselbe Art und Weise anginge. Al-ʿAẓm wies auf die Irrigkeit der Annahme hin, die verzerrte Darstellung einer anderen Kultur und ihre Einordnung in Schemata der eigenen –wie Said sie in Orientalism diagnostiziert – sei charakteristischer Bestandteil des imperialistischen Diskurses und ein Spezifikum des Westens. Al-ʿAẓm schreibt:

“ Said admits readily that it is impossible for a culture, be it Eastern or Western or South American, to grasp much about the reality of another, alienculture withoutresort to categorization, classification, schematization and reduction –with the necessarily accompanying distortions and misrepresentations. If, as Said insists, the unfamiliar, exotic and alien is always apprehended, domesticated, assimilated and represented in terms of the already familiar, then such distortions and misrepresentations become inevitable. …If, as the author keeps repeating(by way of censure and castigation), the Orient studied by Orientalism is no more than an image and a representation of the Occident (the representer in this case) then it is also true that the Occident in doing so is perfectly naturally and in accordancewith the general rule –as stated by Said himself –governing the dynamics of the reception of one culture by another.“

Die islamische Welt, so Al-ʿAẓm weiter, habe das Christentum nämlich ebenso konsequent klassifiziert und nach Maßgabe der eigenen Vorstellungen wahrgenommen wie das Abendland den Islam –und zwar zu allen Zeiten. Meiner Meinung nach ist das Pamphlet von Ᾱl-e Aḥmad, um das es hier unter anderem gehen soll, dafür ein perfektes Beispiel. In ähnlicher Weise setzte sich das hier formulierte Denken über den Westen in ʿAlī Šarīʿatīs (1933-1977) Ommat va emāmat fort. Diese beiden Bücher dürften neben dem 1909 Tanbīh al-umma wa-tanzīh al-milla (Erweckung der Gemeinschaft und Läuterung der Nation)von Mirzā Muḥammad Ḥusain Nā’inī (1860-1936),und Ayatollāh Rūḥollāh Ḫomeinī (1902-1989) ḥokumat-e Islāmī (Die Islamische Regierung) die beiden in Iran einflussreichsten des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein. Sie unterschieden sich von anderen in jener Zeit publizierten Werken insofern, als der Diskurs zuvor säkular und marxistisch dominiert war, und die Religion in ihm kaum eine Rolle spielte – und wenn, dann keine positive: Erst diese beiden Intellektuellen machten den Islam wieder zum Thema – und zwar in Opposition zum Westen.

Im Folgenden soll dargelegt werden, wie sich die heutige Haltung iranischer Intellektueller von Ᾱl-e Aḥmad und Šarīʿatīs wegbereitenden Haltung unterscheidet. Es soll damit ein Beitrag zur Untersuchung postkolonialer Identität geleistet werden. Es geht dabei vor allem darum, die Haltung der sogenannten religiösen Intellektuellen zum Westen zu untersuchen. Dazu soll jedoch zuerst gezeigt werden, wie Ᾱl-e Aḥmad und Šarīʿatī „den Westen“ konstruierten und somit „orientalism in reverse“ betrieben. Daran anschließend soll die Haltung beschrieben werden, die diese Haltung kritisiert, anficht und auflöst. Die ist die Haltung der – wie ich sie nennen möchte – post-islamistischen iranischen Intellektuellen. Sie verzichten auf das othering, das für den von Ᾱl-e Aḥmad und Šarīʿatī angeführten Diskurs charakteristisch war.

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