Dr. Urs Gösen:
„Tradition“ als Vermittlerin von „Innovation“ in der Rezeption von Moderne im Iran des 20. Jahrhunderts
Soziokulturelle oder soziokulturell relevante Debatten über Tradition und Moderne in Ost und West behandeln – oft unreflektiert – «Tradition» als Gegensatz zu «Moderne». Der geplante Vortrag versucht anhand der jüngeren soziokulturellen Geschichte des Iran aufzuzeigen, wie sich «Tradition» in einer wissenschaftlichen Betrachtung kultureller Diskurse nicht als Gegenkonzept, sondern vielmehr als Vermittlerin bei der Rezeption von Moderne erweist – und dies nicht nur im Iran.
Der geplante Vortrag befasst sich dazu exemplarisch mit zwei in soziokultureller Hinsicht bis heute bedeutsamen Entwicklungen der jüngeren Kulturgeschichte des Iran:
Zum einen beleuchtet er die Bedeutung der formalen und thematischen Neuerungen in der persischen Dichtung im Zuge konstitutioneller Bewegungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Abgesehen von dem tiefgreifenden Wandel in den äusseren Bedingungen für Produktion und Rezeption von Dichtung im Zuge der damals neuen Medien wie Zeitungen und Zeitschriften, erfuhr die Dichtung selbst, allgemein betrachtet, erst einen Wandel in den Themen und erst danach in der Form. «Traditionelle» poetische Formen wie Ghazal, Qaside und Robâ`î wurden von politisch und gesellschaftlich engagierten Dichtern der Zeit von Trägern angestammter Themen wie etwa persönlicher Liebeserfahrungen, Mystik und Herrscherlob zu Vermittlern «moderner» Konzepte wie bürgerlicher Freiheit, Konstitutionalismus und Nationalismus umfunktioniert. Dass diese Neuerungen nicht nur in der persischen Literatur der damaligen Zeit, sondern in vielen literarischen Traditionen in Ost und West und zudem nicht nur in der Literatur, sondern auch in vielen weiteren Erscheinungsformen künstlerischer Produktion und Rezeption zu beobachten sind, wird der Vortrag ebenfalls ansprechen. Des weiteren wird er aufzeigen, welches «traditionelle» Konzept von Geschichte sich gerade hinter der literarischen Behandlung von «modernen» Phänomenen wie Konstitutionalismus und Nationalismus fassen lässt.
Zum zweiten wird der Vortrag auch die vermittelnde Rolle von «Tradition» in der Rezeption «modernen» Denkens in Form von Philosophie in der iranischen Geistesgeschichte seit den 1950er Jahren behandeln. Ein erhellendes Beispiel für diesen Vorgang bietet die erste kritische Auseinandersetzung mit moderner westlicher Philosophie in dem Werk «Die Grundlagen der Philosophie und die Methode des Realismus» der beiden Religionsgelehrten Mohammad-Hoseyn Tabatabai und Mortaza Motahhari. In ihrem Durchgang durch diejenigen Lehren der westlichen Philosophie, welche die beiden Gelehrten als Wurzeln der westlichen Moderne betrachteten, versuchen sie, im Angesicht des Anspruches alleiniger Deutungshoheit über «Moderne» seitens des nationalistisch ausgerichteten Pahlavi-Staates sowie gegenüber der iranischen Linken dem religiösen Establishment die soziokulturelle Meinungsführerschaft im theoretischen und praktischen Umgang mit «Moderne» zu verschaffen. Dabei messen die beiden Gelehrten die intellektuelle Qualität der «westlichen» Philosophien, die sie in ihrem Buch durchnehmen, an der Lehre des Philosophen Mullâ Sadrâ aus dem 17. Jahrhundert von der «Eigentlichkeit des Seins», der Lehre also, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert den philosophischreligiösen Diskurs der schiitischen Gemeinde beherrschte. Tabatabais und Motahharis Initiative trug wohl viel dazu bei, dem iranischen Diskurs über Moderne eine philosophische Prägung zu geben. Und auch hier beobachten wir, wie sich die Rezeption «modernen» philosophischen Gedankengutes auf dem Boden der «traditionellen» Lehre von der Eigentlichkeit des Seins nicht unbedingt als Hindernis für die Auseinandersetzung mit modernem Denken auswirkte, sondern dass es vielmehr vielleicht gerade der Vergleich moderner Philosophie mit der traditionellen Seinslehre war, die modernes Denken für viele Kreise im Iran überhaupt erst rezipierbar gemacht hat.