von Mahdi Esfahani[1] und Michael Nestler[2] | Seit der Offenbarung des Korans in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts und seiner nachfolgenden Kodifizierung als eines heiligen Textes und der Gründungsurkunde des Islams hat er im weiteren Verlauf der Jahrhunderte zahlreiche Interpretationen erfahren, die schließlich in einer vielfältigen Kommentarliteratur mündeten. Dabei wurde der Koran innerhalb der muslimischen Tradition entlang verschiedener Aspekte analysiert und ausgelegt, so dass unter anderem philologische, philosophische und mystische Überlegungen in die Kommentierung mit eingeflossen sind ebenso wie – ganz der islamischen Tradition verbunden – die Überlieferungen des Propheten Muḥammad und seiner Nachfolger oder in späteren Zeiten auch die Gedanken muslimischer Rationalisten, die den Koran nach ihrem Gottes- und Weltbild zu erklären versuchten.[3] All dies zeigt auf, dass der Koran als Text eine Vielzahl an Zugängen ermöglicht, die je nach Betrachtungsweise, geistiger Strömung oder konfessioneller Überzeugung zu unterschiedlichen Ergebnissen im Verständnis desselben führen können und die Grundlage bilden für das reiche Repertoire an exegetischem Material, das uns heute noch zur Verfügung steht.
Ähnliches gilt nun auch für den Prozess des Übersetzens, wenn man davon ausgeht, dass jeder Versuch einer Übertragung von einer Sprache in die andere einer Interpretation gleichkommt. So ist es durchaus verständlich und naheliegend, dass man bei einer Übersetzung des Korans auf jenes oben erwähnte exegetische Textmaterial zurückgreift und es in die Übersetzung – direkt oder indirekt – mit einbindet, so dass sich dadurch zwangsläufig die verschiedenen Zugänge, auf die man sich beruft, in dem übertragenen Text widerspiegeln. Was bei einem solchen Vorgehen aber unbedingt berücksichtigt werden muss, ist, dass man unter Umständen weniger den Originaltext in seiner literarischen Einzigartigkeit und Schönheit selbst sprechen lässt als vielmehr die unzähligen Stimmen und Gesinnungen, die bereits an ihn herangetragen wurden. Derartige, bestimmten Tendenzen folgende Koranübersetzungen können hilfreich sein und zu einem besseren inhaltlichen Verständnis beitragen, sie vernachlässigen meistens aber gleichzeitig auch die besondere Rhetorik und Ästhetik des Ursprungstextes, der sich letztlich durch eine ihm eigene Verwendung von Worten, sprachlichen Formulierungen und grammatischen Strukturen auszeichnet. Und genau hierin sehen die Verfasser dieses Artikels die Notwendigkeit begründet, den Koran unter genauer Beachtung der etymologischen, grammatischen, rhetorischen und ästhetischen Eigenschaften, die den arabischen Originaltext ausmachen und ihm zugrunde liegen, aufs Neue in die deutsche Sprache zu übertragen, in der Hoffnung, somit der literarischen Stimme des Korans in einer Übersetzung mehr Rechnung tragen zu können und die bisher hierzu erfolgten Forschungen und Übersetzungen zu ergänzen beziehungsweise weiterzuentwickeln.[4]
Was nun aber genau unter dem hier formulierten Ansatz zu verstehen ist, das ist Gegenstand der folgenden Darstellung, die sich in zwei Abschnitte unterteilt. Teil I des vorliegenden Artikels ist zunächst der etymologischen Herangehensweise und dem damit verbundenen sensuellen Gebrauch von Worten gewidmet, der an dieser Stelle erstmalig vorgestellt und anhand ausgewählter Beispiele näher erläutert wird.[5] Diese etymologischen Untersuchungen werden im Anschluss auf einige koranische Schlüsselbegriffe erweitert, um zu zeigen, dass sich bei einer Übersetzung durch das genaue Ausloten der in den Worten angelegten sensuellen Bedeutungsinhalte ein tieferes Verständnis koranischer Begrifflichkeiten entwickeln lässt, was wiederum den Blick dafür öffnet, wie der Koran Begriffe, die zur gleichen Wortfamilie gehören, miteinander vernetzt und systematisch in seine Argumentation einflechtet. In Teil II des Beitrags geht es dann hauptsächlich darum, am Beispiel einiger deutscher Koranübersetzungen zu veranschaulichen, welche neuen Möglichkeiten sich bei einer Übersetzung auftun, wenn versucht wird, die größtmögliche Nähe zum Originaltext herzustellen, indem man die von ihm vorgegebenen syntaktischen und grammatischen Strukturen insoweit beibehält und übernimmt, wie es der allgemein deutsche Sprachgebrauch zulässt und weitestgehend hergibt. Hierzu ist anzumerken, dass ein derartiger Übertragungsprozess begleitet sein muss von einem gewissen Maß an künstlerischer beziehungsweise poetischer Freiheit, die es sowohl bei der Wortfindung als auch bei der Wiedergabe von Satzstrukturen zu berücksichtigen gilt, solange sich dies – vor allem in Bezug auf den Koran – noch im Rahmen des Verstehbaren bewegt und bei der Wahl an Formulierungen nicht auf allzu abstrakte und ungewöhnliche Ausdrucksweisen und Konstruktionen zurückgegriffen wird, um zwanghaft die Nähe zum Original aufrechterhalten zu können. Wenn dieser Grundsatz gewahrt bleibt, dann kann man hinsichtlich einer weiteren Koranübersetzung tatsächlich neue Wege gehen, aber immer in dem Bewusstsein, dass auch dies nur einen Versuch darstellt, der sich in die bisherigen Übersetzungsunternehmungen einreiht und dem idealerweise der Wunsch zugrunde liegt, der literarischen Schönheit und Einzigartigkeit des Originals bei der Übertragung zu entsprechen und in irgendeiner Form gerecht werden zu können.[6]
[1] Assistenzprofessor für Philosophie (Religionsphilosophie); Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften, Teheran, Iran, E-mail: mahdi313esf@yahoo.com.
[2] M.A. Student für Arabistik, Freie Universität Berlin, E-mail: Mikail76@zedat.fu-berlin.de.
[3] Vgl. hierzu z. B. Goldziher, Ignaz: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden 1920.
[4] Auch wenn es unmöglich erscheint, eine Übersetzung anzubieten, die allen Interpretationsmöglichkeiten gegenüber offensteht, so bleibt an dieser Stelle dennoch zu hoffen, dass der oben genannte Ansatz durch die genaue Beachtung der im Koran vorhandenen sprachlichen Gegebenheiten zumindest annähernd dazu beiträgt, den verschiedenen Auslegungsarten in ihrer Vielfalt Raum geben zu können.
[5] Wenn hier von Etymologie gesprochen wird, dann ist damit zunächst einmal nach allgemeinem Verständnis die Herkunft von Worten und ihre ursprüngliche Bedeutung gemeint. Diese Definition wird in dem vorliegenden Artikel insofern ausgeweitet, dass man davon ausgeht, dass die Herkunft eines Wortes auf einen unmittelbar sensuellen Gebrauch zurückgeführt werden kann, der im Lauf der Zeit durch verschiedene kulturelle Einflüsse und Prägungen überlagert wurde und in neue Bedeutungsinhalte übergegangen ist. Will man nun der ursprünglichen Bedeutung eines Wortes innerhalb eines bestimmten Sprach- und Kulturraums auf den Grund gehen, dann gilt es, genau diesen sensuellen Gebrauch aufzudecken und wieder herauszuarbeiten. Näheres hierzu wird im weiteren Verlauf des Artikels erläutert.
[6] An einem solchen Versuch mit dem hier vorgestellten Anspruch an eine Koranübersetzung arbeiten die Verfasser dieses Artikels mit einigen Unterbrechungen seit dem Jahr 2014, wobei bisher ungefähr die Hälfte des Korans in einer ersten Fassung bearbeitet wurde. Bei kontinuierlicher Fortführung des Projekts darf darauf gehofft werden, dass in naher Zukunft eine Komplettübersetzung des Korans vorgelegt und veröffentlicht werden kann.