Roland Pietsch[1]
رَأَيـــتُ رَ بِّــــي بِـــــعَــينِ قَلبِـــــي
فَـــقُلتُ مَـــنْ أَنـــــتَ؟
قَـــالَ أَنــــتَ
Ich sah meinen Herrn mit dem Auge meines Herzens und
sagte: „Wer bist Du?“
Er antwortete: „Du“.
Husain ibn Mansūr al-Hallāğ[2]
Die Symbolik des Herzens ist in allen großen Religionen und Überlieferungen der Menschheit von höchster Bedeutung, denn sie verweist auf Wahrheiten, die alles begriffliche Denken weit übersteigen. Allein der Geist kann diese Wahrheiten in einer mystisch-metaphysischen Schau erfassen. Im Islam bildet die Herzsymbolik gleichsam den Kern der islamischen Religion, der als islamische Mystik (tasawwuf oder al-´irfān) bezeichnet werden kann, wenn er sich auf das Mysterium der höchsten göttlichen Wirklichkeit bezieht[3]. Der äußere Rahmen, der diese Mitte umgibt, ist das Gesetz oder die Scharia, das heißt übersetzt: die breite Straße. Wer auf der breiten Straße zu Gott wandert, der hält sich an das Gesetz und erfüllt es. Wer aber darüber hinaus von Gott berufen wird, die höchste Wirklichkeit zu lieben und zu erkennen, der hält das Gesetz, überschreitet es aber gleichsam nach innen. Dieser Weg nach innen ist der enge schmale Pfad oder der mystische Weg (ṭarīqa) der Gottesliebe und Gotteserkenntnis. Dieser Weg nach innen ist der Weg in die Mitte des Menschen, in sein Herz. In diesem Zusammenhang muss grundsätzlich darauf hingewiesen werden, dass sowohl die breite Straße als auch der schmale Pfad zu Gott in der im Koran gegebenen göttlichen Offenbarung und ihrer vielfältigen Symbolik begründet sind. Im Koran wird das Wort Herz in seinen verschiedenen Bedeutungen 132 Mal erwähnt[4]. Es bildet in seiner innersten Mitte den eigentlichen „Ort“ der höchsten Gottesliebe und Gotteserkenntnis. Mit der Symbolik des Herzens ist auch die Symbolik des Auges auf das Engste verbunden. In der islamischen Mystik wird zwischen äußerem und innerem Auge unterschieden. Das äußere Auge bezieht sich auf die Sinne und äußere Erscheinungen. Das innere Auge stammt aus der geistigen Welt oder dem Himmelreich. Den Unterschied zwischen äußerer Erscheinungswelt und Himmelreich erklärt der persische Theologe und Mystiker al-Ghazālī (1058-1111)[5] auf folgende Weise: „Wisse, dass die Erscheinungswelt sich zu dem Himmelreich verhält wie die Schale zum Kern, die Form oder das Modell zum Geist, die Dunkelheit zum Licht und die Niedrigkeit zu der Erhabenheit. Deshalb wird das Himmelreich die höhere, die Geistes- oder die Lichtwelt genannt. Ihr steht die niedrige, die materielle und dunkle (Welt) gegenüber. Glaube jedoch nicht, dass wir mit der höheren Welt den Himmel meinen. Denn er steht hoch und oben im Verhältnis zur Erscheinungs- und Sinnenwelt und kann selbst vom Vieh erfahren werden. Dem Menschen aber bleibt die Tür zum Himmelreich verschlossen, und er wird nicht himmlisch sein, es sei denn, ‚dass für ihn die Erde als diese und der Himmel als dieser verwandelt wird‘[6]. So dass alles, was in den Bereich seiner Sinne und seiner Imagination fällt, einschließlich des (sichtbaren) Himmels, seine Erde sein wird, und alles, was über die Sinne hinausgeht, sein Himmel. Das ist der erste Aufstieg für denjenigen, der seine Reise [d. h. den mystischen Weg] begann, um sich der göttlichen Anwesenheit zu nähern. Denn der Mensch ist auf die tiefste der Tiefen zurückgewiesen, von da aus steigt er auf zu der höchsten Welt… Wenn der Aufstieg der Propheten die höchste Stufe erreicht und sie von dort aus in die Tiefe schauen und von oben nach unten blicken, so sehen sie in die Herzen der Menschen und erlangen einige Kenntnisse über das Verborgene. Denn wer sich im Himmel befindet, der ist auch bei Gott: ‚Er allein besitzt die Schlüssel zu dem Verborgenen‘[7], d. h. von ihm werden die Gründe der Seienden in die Welt hinab gesandt; die Welt der Erscheinung ist eine der Wirkungen jener Welt, deren Verhältnis zu ihr wie das Verhältnis des Schattens zur Person, der Frucht zum Fruchtbringenden und der Wirkung zur Ursache ist“[8]. Die tiefe symbolische Bedeutung des Herzens und des inneren Auges erschließt sich in ihrem ganzen Reichtum, wenn die islamischen Mystiker den geistigen Weg beschreiben. Diese Beschreibungen enthalten Einblicke und Erkenntnisse, die beim Beschreiten des geistigen Weges gewonnen wurden. Sie bilden die mystisch-metaphysische Lehre, die mit der Methode, das heißt mit dem Weg der Verwirklichung der Lehre, eine unlösbare Einheit bildet. Aus der Fülle der islamischen Mystik und Metaphysik, wird im Folgenden zunächst anhand der Lehre des persischen Mystikers und Gelehrten Abū ´Abdallāh Muḥammad ibn ´Alī al-Ḥakīm al-Tirmiḏi (820/830-905/930)[9] eine Übersicht über die verschiedenen Anblicke des Herzens und ihre Verbindung mit der koranischen Seelenlehre als eine kurze Einführung in die mystische Herzenssymbolik gegeben. Anschließend wird versucht, einige Grundzüge der mystisch-metaphysischen Gotteslehre oder Gottesschau des größten in Andalusien geborenen islamischen Meisters Ibn ´Arabī (1165-1240) aufzuzeigen.
Quelle: Spektrum-Iran 1-2019
[1] Professor an der Ludwig-Maximilian Universität München, E-mail: roland.pietsch@t-online.de.
[2] Berühmter persischer Mystiker (857-922). Der arabische Text dieses Verses und die französische Übersetzung sind in der zehnten Muqatta’a seines Diwans enthalten, vgl. LE DĪWĀN D’ÁL-HALLÁJ – édité, traduit et annoté par Louis Massignon, Paris 1955, S. 46.
[3] Vgl. dazu Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam – Die Geschichte des Sufismus, Frankfurt am Main und Leipzig 1995.
[4] Vgl. Tilman Seidensticker, Altarabisch ‚Herz‘ und sein Wortfeld, Wiesbaden 1992.
[5] Über sein Leben und Werk vgl. Bernard Carra de Vaux, Gazali: A. H. 450 -505 / A. D. 1058-1111 (Algazel); étude sur la vie et l’oeuvre mystique, philosophique et théologique d’Abou Hamid Mohammed al-Gazali, Amsterdam 1974.
[6] Koran 14, 48.
[7] Enenda 6, 59.
[8] Abū-Ḥāmid Muḥammad al-Ghazālī, Die Nische der Lichter – Miškāt al-anwār, Aus dem Arabischen übersetzt, mit einer Einleitung, mit Anmerkungen und Indices hrsg. von ´Abd-Elṣamad ´Abd-Elḥamīd Elischazlī, Hamburg, 1987, S. 16 f.
[9] Über Leben und Werk von Al-Tirmiḏī siehe Bernd Radtke, Al-Ḥakīm at-Tirmiḏī – Ein islamischer Theosoph des 3. / 9. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1980.