Annemarie Schimmel
Ich erinnere mich noch an die tiefen Eindrücke, die das erste persische Gedicht im Zusammenhang mit den tragischen Vorfällen von Kerbela auf mich hinterliess. Es war Qa’anis Elegie, die mit den Worten beginnt:
Was regnet es? Blut.
Wer? Die Augen.
Wie? Tag und Nacht.
Warum? Aus Trauer.
Trauer um wen?
Trauer um den König von Kerbela.
Dieses Gedicht, in seinem wundervollen Stil von Frage und Antwort, sagt viel über die dramatischen Geschehnisse und über die Gefühle, die fromme Muslime erleben, wenn sie an den Märtyrertod des geliebten Prophetenenkels durch die Hand der umayyadischen Truppen denken.
Seit frühester Zeit belegt das Thema über Leiden und Märtyrertum eine zentrale Rolle in der Geschichte der Religion. Schon in den Mythen des alten Vorderen Orients hören wir vom Helden, der erschlagen wird, aber dessen Tod dann die Erneuerung des Lebens garantiert: Die Namen von Attis und Osiris aus der babylonischen bzw. ägyptischen Tradition sind die besten Beispiele für die Einsicht der Antike, dass das Leben ohne Tod nicht andauert und dass das Blut, das für eine heilige Sache geopfert wird, kostbarer ist als alles andere. Opfer sind ein Mittel, um höhere und erhabenere Stadien des Lebens zu erlangen, oder Mitglieder der eigenen Familie zu opfern, erhöht den eigenen religiösen Status. Die biblische und koranische Geschichte von Abraham, der ein so tiefes Vertrauen in Gott hatte, dass er ohne zu fragen gewillt war, seinen einzigen Sohn zu opfern, weist auf die Bedeutung solcher Opfer hin.
lqbal hatte sicherlich Recht, als er in einem wohl bekannten Gedicht in Bal-i Jibril (1936) das Opfer von Isma’il mit dem Märtyrertum von Husain verknüpfte, von denen der eine den Anfang und der andere das Ende der Geschichte der Ka‘ba bewirkte.
Wenn wir die Bedeutung von Opfer und Leiden für die Entwicklung des Menschen berücksichtigen, überrascht es nicht mehr, dass die islamische Geschichte dem Tod auf dem Schlachtfeld des geliebten Prophetenenkels Husain einen zentralen Ort beigemessen und es oft mit dem Gifttod seines älteren Bruders Hasan verknüpft hat. In der Volksliteratur finden wir oftmals beide, Hasan und Husain, wie sie an der Schlacht von Kerbela teilnehmen, was zwar historisch falsch, aber psychologisch richtig ist.
Spektrum Iran 4 – 2002