Ein typisches Motiv des handgeknüpften iranischen Teppichs ist das Baummotiv (Deracht). Dieses wird entweder als Hauptmotiv oder in Kombination mit anderen Mustern geknüpft. Der Baum hatte in der Mythologie symbolische Bedeutung. Wie der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade (verstorben 1986) schreibt, wurde die Welt in der Mythologie als ein Baum verstanden. Eliade schreibt: In Mythen und Religionen bedeutet dieses Wahrzeichen – der Baum – Wiedergeburt, Endlosigkeit, Erneuerung, Quelle des Lebens und Quelle der Jugend und Wirklichkeit.“
Das Baum-Motiv im iranischen Teppich hat in der Regel die Gestalt einer Zypresse. Dieses Motiv kommt auch in den Teppichen mit Goldani ( Blumenvasen)-Motiven und den Golestan-(Paradiesgärten)-Motiven vor. Nicht nur auf Teppichen sondern auch auf Stoffen wie dem handgewobenen Termeh aus Yazd oder dem mit Stoffstempeln bedruckten Qalamkar-Stoffen aus Isfahan ist das Zypressenbild zu sehen und es ist ebenso bei der künstlerischen Verzierung von Metall- oder Steinflächen mit Stift und Hammer (Qalamzani) und anderen traditionellen Künsten beliebt. Dank dieser weit gespannten Verwendung des Zypressenbildes gibt es heute mehr als 60 verschiedene Darstellungsarten dieses Baumes.
In der Antike war die Zypresse Zeichen für einen Heiligen Baum, für den ewigen Frühling und die Großzügigkeit. Die Künstler der Assyrer, Ilamer und Achämeniden stellten Zypressen naturgetreu dar in Form eines senkrechten Längsschnittes, der den Stamm des Baumes mit seinen waagenrechten Zweigen rechts und links zeigte. Ein gelungenes Beispiel sind die detaillierten Steinreliefs auf der Persepolis (Tacht-e Dschamschid) aus der Zeit der Achämeniden (vor Christus). Bei den Parthern und Sassaniden galt die Zypresse nicht mehr als heiliger Baum. Sie war nicht mehr geheimnisvoll umwoben, aber ihr Bild wurde traditionell weiter verwendet.
Nach Beginn und Entfaltung der Islamischen Zivilisation trennte sich die Zypresse schließlich vollständig von ihren antiken Wurzeln und wurde zu einem reinen Verzierungselement, völlig frei von jeglicher religiösen Bedeutung. Es gibt allerdings Anhaltspunkte dafür, dass dieser Baum weiterhin Wahrzeichen für ewige Frische und als Baum des Lebens galt. Ab dem 6. Jahrhundert nach der Hidschra (12. Jahrhundert nach Christus) wurde das schlichte Bild der Zypresse verfeinert und es wurde das stilisierte Zypressen-Bild daraus entwickelt. Dieses Bild wird Boteh Dschoqeh , zu deutsch: Paisleymuster genannt. Dieses Paisley setzte sich allmählich auch als Muster bei der Gestaltung des iranischen Teppichs durch.
Ein weiteres bekanntes iranisches Teppichmuster mit dem Baum-Motiv ist das Golestan-Muster, welches zur Zeit der Safawiden auch als Golzar bekannt wurde. Der amerikanische Historiker Arthur Pope bezeichnet dieses Muster auch als Ferdaus und Paliz. Ferdaus ist ein Garten, um den mehrere Schutzmauern angelegt sind, von denen eine besonders hoch und breit ist und das Eindringen des Ahriman – des Zerstörerischen, verhindern soll. Meistens sind es 7 Mauern, die den Garten schützen. Diese Mauern um den Garten werden im iranischen Teppich in Form der mehrfachen Umrandung des Teppichfeldes wiedergegeben. Übrigens hat die Zahl 7 in der islamischen Mystik einen besonderen Stellenwert und viele Mystiker bezeichnen sie in ihren Schriften als heilig.
Im Ferdaus gibt es eine ewige Quelle mit klarem Wasser. Dort leben viele verschiedene Tierarten und die schönsten Pflanzen wachsen in ihm, ohne dass sie vom Tod und vom zerstörerischen Ahriman betroffen würden. Der Golestan- oder Ferdaus-Teppich soll das Paradies andeuten. In der Mitte des Teppichfeldes ist oft ein Wasserbecken in runder oder viereckiger Form abgebildet, von dem an allen vier Seiten Wasserrinnen und Blumenbeete ausgehen. Im Wasser tummeln sich Fische und hier und dort sind Vögel und andere Tiere in diesem lieblichen Garten zu sehen.
Die mythologische Vorstellung vom Paradiesgarten, mit einem wassergefüllten Becken in der Mitte hat entscheidend die Gestaltung des iranischen Teppichs geprägt und zwar wurde das Bild von diesem Wasserbecken in Form des Torandsch – des Medaillons in der Mitte – stilisiert. Diesem Medaillon begegnen wir aber auch auf bedruckten Qalamkar-Stoffvorhängen und auf Kacheldekor und in der Buchmalerei. Bruchteile des Torandsch sind die Viertelmedaillons in den Ecken von vielen Teppichfeldern. Sie werden Latschak genannt. Diese Ganz-oder oder Teilmedaillons vereinen Blumen- und Blättermotive und Arabesken-Design in sich.
In der Buchmalerei wurde ein Medaillon traditionell auf der Rückseite des ersten Blattes gemalt und vergoldet und in der Mitte des Medaillons wurden der Buchtitel und eine Widmung oder die Angaben zum Buch geschrieben.
Einige Kunstexperten sind der Ansicht, dass ein Medaillon in Anlehnung an Bilder und Beispielen aus der Natur schön wird, aber auch die Geometrie von großem ästhetischem Wert ist. Früher herrschte die Überzeugung dass die Mathematik und Geometrie die einzige Wissenschaft ist, die das Wissen Gottes und die in der Weltherrschende Ordnung und Harmonie veranschaulichen kann. Und so haben die Zeichner von Teppichentwürfen kreativ geometrische und Bilder aus der Natur miteinander kombiniert. Sie haben ihren Teppichentwürfen die Regeln der Mathematik zugrunde gelegt.
Der erste Ansatz für das Torandsch (das Medaillon) war Jahrhunderte vor dem Islam eine Figur namens Chorschid-e Aryai (Arische Sonne) oder Swastika. Swastika verbildlichte eine im Grundriss quadratische Figur, die sich um ihren Mittelpunkt dreht. Es ist einer der ältesten Grundfiguren der Antike und wir begegnen ihr über mehrere Tausend Jahre in vielen alten Kulturen im Iran, China, Indien und anderen Ländern, auch in Afrika. Man ist sich sicher, dass diese Figur, die leider im Dritten Reich leicht verändert für das Hakenkreuz missbraucht wurde, aus Mittelasien stammt, von wo aus die arischen Völker nach Indien , Afghanistan und Iran weiterzogen. Auch die Ureinwohner Amerikas sind einige Tausend Jahre vor ihnen von diesem Gebiet aus auf den amerikanischen Kontinent gekommen. Das älteste Beispiel für die „Arische Sonne“ ist an Bauwerken aus dem 5. und 4. Jahrtausend vor Christus in der südiranischen Stadt Schusch (Susa) entdeckt worden. Das älteste iranische Gewebe, auf dem dieses Wahrzeichen, das als Glücksbringer galt, auftaucht, ist ein Webstoff aus der Zeit der Arsakiden, welches man in Gräbern im Nordwestiran (Aserbaidschan) gefunden hat. Die Arsakiden herrschten von 240 vor Christus bis 224 nach Christus im Iran. Dieses Sonnenbild war anfangs fast rund und dann erst wurde es zu einem Wahrzeichen mit geraden bzw. angewinkelten Armen. Eine Gruppe von Archäologen ist der Ansicht, dass der Knick in den Armen der Figur die Bewegung eines Uhrzeigers anzeigt. Nach Beginn der Islamischen Ära brachten die Muslime die Figur mit religiösen Überzeugungen in Verbindung. Das daraus entwickelte Medaillon (Torandsch) hat man dabei als vollendete Verbildlichung der Wanderung des Menschen zu Gott gedeutet. Torandsch und Schamseh (Medaillon und Sonnenbild) symbolisieren in der harmonischen Kombination von verspielten Islimi-Mustern und klaren geometrischen Figuren die beiden Zentren in der Seele des Menschen, von denen das eine der Liebe zu Gott und Mystik folgt und das andere der Erkenntnis, Logik und dem Verstand.
Wenn beide sich zu einem gemeinsamen Motiv zusammentun entsteht ein wunderbares anziehendes Bild vom Ideal des Menschen.
Mit der Betrachtung der kunstvollen Muster – so können wir noch hinzufügen – gelangt man zu der Einsicht, dass im Gegensatz zu der heutigen modernen Kunst alte Motive wie Torandsch (das Medaillon) aus der Sicht der Philosophie und Mystik zu sehen sind und man der Wirkung, die sie auf den Geist und die Seele des Menschen mehr Beachtung schenken sollte.