Von Anke Bosse [1]
Mit über 240 Gedichten ist Goethes West-östlicher Divan das weitaus größte Gedichtensemble in seinem Gesamtwerk. Dennoch beginne ich meinem Beitrag mit jenen zwei Gedichten, die dem internationalen Symposion Der west-östliche Divan. Globalisierung neu denken vorangestellt wurden. Goethe hat sie nie in seinen West-östlichen Divan aufgenommen, auch wenn sie in dessen Umfeld entstanden. Sie verblieben im gleichfalls sehr umfangreichen Divan-Nachlass[2] – und machten dennoch eine erstaunliche Karriere.
Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Occident
Sind nicht mehr zu trennen.
Dieser prägnante Spruch steht neben Ghaselen des persischen Dichters Hafis auf der Fundamentplatte des Goethe-Hafis-Denkmals in Weimar.[3] Dass die erste deutschsprachige Gesamtübersetzung der Ghaselen Hafis‘ 1814 Auslöser der Divan-Gedichte Goethes waren, wissen wir und wird in anderen heutigen Statements noch vertieft.
Schauen wir uns das Goethe-Hafis-Denkmal im Jahre 2000 an (https://www.imago-images.de/fotos-bilder/hafis-goethe-denkmal). Wir müssen schmerzlich feststellen: Wir waren vor 22 Jahren so viel weiter als heute! Das Denkmal ist eine Schenkung der global agierenden UNESCO, eingeweiht wurde es vom iranischen Staatspräsidenten Mohammed Chatami und dem damaligen deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau. Unter dem moderaten Chatami erlebte Iran eine kurze Tauwetterperiode, die Hoffnung auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Heute müssen wir fragen – und dieses ‚wir‘ meint nicht nur die beim Symposion im Juli 2022 in Wien Anwesenden, sondern ganz besonders die Menschen, vor allem die jungen, in Iran: Wo ist sie hin, diese Hoffnung? Als ich 2019 in Iran war, waren es die Jungen, Klugen, Weltoffenen, die fragten: Was wird meine Zukunft sein, habe ich überhaupt eine?
Die Geschichte der kulturellen Entwicklungen im Iran zeigt, dass die iranische Jugend diese Hoffnung finden wird. Begünstigt durch eine tiefe Mischkultur, hat der Iran immer wieder und teilweise unter großen Schwierigkeiten eine passende Antwort auf seine Forderungen gefunden. Entwicklungen wie diese sind für diese historische Kultur nichts Ungewöhnliches und früher oder später werden sich diese jungen Menschen trotz aller Hindernisse zurechtfinden. Natürlich müssen diese Lösungen innerhalb der kulturellen Elemente der gleichen Geschichte und mit der Inspiration der Moderne gefunden werden, um schließlich die angemessene Balance aus dem Herzen dieser komplexen Komponenten herauszuholen. Junge Menschen blicken stärker in die Zukunft als andere Altersgruppen. Daher stehen sie in den meisten Gesellschaften mit ihren auf die Zukunft gerichteten Wünschen und Hoffnungen der aktuellen Situation kritisch gegenüber. Sie glauben, dass die bestehenden politischen Strukturen ihnen den Raum für ihr fruchtbares Leben genommen haben. Die wichtige und unbestreitbare Frage ist, dass die Kulturpolitik jeder Regierung die Bedürfnisse junger Menschen kontinuierlich berücksichtigen sollte, damit ihr Horizont der Hoffnung nicht blockiert wird.
Das Goethe-Hafis-Denkmal besteht aus zwei gleich großen, einander zugekehrten Stühlen. Sie stehen für das Gespräch. Man kann sich Hafis und Goethe auf ihnen sitzend vorstellen, aber sie sind nicht abgebildet. Gut so! Denn so ist dieses begehbare Denkmal tatsächlich zu einem Ort des Austauschs, der Reflexion, der immer neu variierenden künstlerischen Auseinandersetzung geworden – und bleibt damit lebendig.[4] Damit dies so ist und sein kann, muss ein rechtsstaatlicher, menschenrechtlicher und demokratischer Rahmen Freiheit schaffen und garantieren. Dieser Rahmen ist global bedroht.
Schauen wir uns das Spruchgedicht näher an. Die vier kurzen Verse mit Kreuzreim laden dazu ein, gesprochen zu werden, und sie sind leicht zu merken. Also ein Merkspruch. Wenn wir näher herangehen, sehen wir: Die Kernaussage ist in v. 3 und 4: „Orient und Occident / Sind nicht mehr zu trennen“. Dies setzt voraus, dass es zuvor eine Zeit der Trennung gab, diese jetzt aber überwunden ist durch unauflösliche Verbundenheit. Diese Verbindung ist aber nicht einfach da, sondern eine Erkenntnis. Und diese Erkenntnis ist an Bedingungen geknüpft: (v. 1) „Wer sich selbst und andre kennt“. Die Verbundenheit kann nur erkennen, wer sich selbst erforscht, reflektiert und fähig ist, andere zu erforschen, zu erkennen, kennen zu lernen – ein aufwändiger und genau genommen offener Prozess. Das ist typisch Goethe: ein vermeintlich einfaches Gedicht, das zum Lesen/Sprechen/Merken einlädt, Sie erfreuen sich spontan an harmonischer Orient-Occident-Verbundenheit. Doch erst wenn Sie genauer hinsehen, erkennen Sie deren Bedingungen. Die Verbundenheit verlangt von Ihnen reflektives, empathisches, immerwährendes miteinander Handeln.
Zwei kleine Wörter, die allzu leicht überlesen werden, mag ich besonders: (v. 2) „auch hier“. Ich halte es für eine geniale Entscheidung, diesen Merkspruch mit dem Goethe-Hafis-Denkmal zu verbinden. Denn so verweist das „Hier“ auf das Denkmal und seinen Ort; „auch“ zeigt an: hier, aber nicht nur hier.
Ich komme zum zweiten Gedicht. Seine ‚Karriere‘ im öffentlichen Bewusstsein ist mit seiner Vertonung durch Aribert Reimann, mit dem Internet-Projekt Transfer Together – Goethe ohne Grenzen u.v.m. verbunden:
Sinnig zwischen beyden Welten
Sich zu wiegen lass ich gelten
Also zwischen Ost und West
Sich bewegen sey zum besten!
Weiter unter: http://spektrum.irankultur.com/?p=3675&lang=de
PDF: Interkulturelle Balance? Zu Goethes West-östlichem Divan
[1]. Abteilungsleiterin (Das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv-Universität Klagenfurt); E-mail: Anke.Bosse@aau.at.
[2]. Siehe Anke Bosse: „Meine Schatzkammer füllt sich täglich …“. Die Nachlaßstücke zu Goethes West-östlichem Divan. 2 Bde. Göttingen 1999, bes. S. 21, 1042f., 1045-1048, 1052.
[3]. Abb. siehe https://www.literaturland-thueringen.de/wp-content/uploads/2016/ 04/Weimar-Beethovenplatz-Hafis-Denkmal-Inschrift-deutsch-548×231.jpg.
[4]. Vgl. z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Goethe-Hafis-Denkmal.