von Bascha Mika | Karl-Josef Kuschel spricht im Interview über Goethe und seinen „West-östlichen Divan“ – und die Frage, warum seine tiefe Bewunderung für den Dichter Hafis in Deutschland bis heute so wenig Interesse findet.
Herr Kuschel, Sie präsentieren den oft genug nationalistisch instrumentalisierten Dichter Goethe als leidenschaftlichen Bewunderer des Korans. Wo bleibt da das Feindbild Islam?
(Kuschel lacht) Das Feindbild Islam hatte Goethe als Hintergrund – und zwar in doppelter Hinsicht. Seit Mittelalter und Reformation haben die Kirchen alles getan, um den Islam als Religion des Antichristen zu dämonisieren und Mohammed als Betrüger und Pseudopropheten zu denunzieren. Islamverachtung hat eine lange, vor allem kirchlich geprägte Tradition …
… wie man in Luthers Anti-Islam-Schriften nachlesen kann …
Und nicht nur da. Zudem lebte Goethe ja noch zur Zeit der Türkenkriege. Das waren regelrechte Kreuzzüge christlicher Mächte, vor allem Russlands, gegen das osmanische Reich. Soweit der Hintergrund. Um so erstaunlicher, dass Goethe sich davon frei macht und sich ein eigenes Urteil über die Kultur und die Religion des Islam verschafft. Ganz im Sinne der Aufklärungsparole, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.
Seine Aufgeschlossenheit führt allerdings auch dazu, dass er von einschlägiger islamischer Seite als bekennender Muslim vereinnahmt wird. Klingt ähnlich unseriös wie die deutschnationale Denkmalpflege.
Wahrhaftig. Als Beleg dienen dann identifikatorische Aussagen von Goethe wie: „Wenn Islam Gott ergeben heißt / Im Islam leben und sterben wir alle.“ Oder: „Der Dichter lehnt es nicht ab, selber ein Muselman genannt zu werden.“ Ich grenze mich in aller Schärfe gegen jede Form der Vereinnahmung und unkritischen Verherrlichung des Dichters ab. Vor allem wenn Goethe ohne Kontextualisierung für Propagandazwecke missbraucht wird.
Zusammen mit dem Kalligrafen Shahid Alam haben Sie jetzt das wunderschöne Buch „Goethe und der Koran“ gemacht. Wieso ist es mit Kalligrafien geschmückt?
Einerseits ziert es jedes Buch über einen großen Dichter, wenn auch eine andere künstlerische Dimension einbezogen wird, in diesem Fall die Malerei. Hinzu kommt, dass Goethe selber kalligrafische Übungen gemacht hat. Er spürte, er muss sich in den Geist dieser Kunst einarbeiten, sie auf sich wirken lassen.
Was macht diesen besonderen Geist aus?
„In keiner Sprache ist vielleicht Geist, Wort und Schrift so uranfänglich zusammengekörpert“, schrieb Goethe. Was heißt das übersetzt? In keiner anderen Schriftsprache ist es möglich, die Buchstaben so ineinander zu verschlingen, dass gleichzeitig ihre Individualität erhalten bleibt. Wenn sie im Deutschen die Buchstaben ineinanderschieben, können sie das Wort nicht mehr lesen, sie sehen nur noch Grafik ohne Semantik. Im Arabischen ist das anders.
Zur Person
Karl-Josef Kuschel, 1948 in Oberhausen geboren, hat Germanistik und Katholische Theologie in Bochum und Tübingen studiert. Bis 2013 war er Professor für Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Tübingen und Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung.
Zu seinen Büchern gehören die Bände „Im Fluss der Dinge. Hermann Hesse und Bertolt Brecht im Dialog mit Buddha, Laotse und Zen“, 2018, und „Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch“, 2017.
Trotz des „West-östlichen Divan“ hat die breite Öffentlichkeit sich nie sonderlich für Goethes Liebe zum Orient interessiert. Warum eigentlich nicht?
Weil es eine religionspolitisch herausfordernde Botschaft ist, aber auch eine intellektuell anspruchsvolle. Goethe hatte sich sehr intensiv in die komplexe Welt des Koran und der Prophetenbiografie eingearbeitet und sich mit Fachliteratur auseinandergesetzt. Er hat Orient-Studien in einer Breite und Tiefe betrieben, die im Raum der Dichtung ihresgleichen sucht. Auf diese Weise hat er seinen eigenen „Divan“ zustande gebracht, der aus zwölf Büchern mit fast dreihundert Gedichten besteht. Außerdem hat er noch einen Prosateil beigefügt, in dem er zeigt, wie gründlich er sich in die Kultur der Anderen eingearbeitet hat.
Goethe hat diese Liebe erst spät entdeckt. Es war doch eher Zufall, dass sein Verleger ihm 1814 das Werk des Persischen Dichters Hafis schenkte …
… gepriesen sei Tübingen, denn sein Verleger Cotta war ja Tübinger. Der drückt ihm die gerade erschienene Übersetzung von Hafis in die Hand und das Wunder geschieht. Das ist keine Floskel, Frau Mika! Der Mann, der glaubte, mit 65 Jahren literarisch ausgebrannt zu sein und sich nur noch in Erinnerungen erging, bei dem springt bei der Lektüre von Hafis der lyrische Funke über, einschließlich hinreißender Liebesgedichte. Und in kürzester Zeit, bis Ende des Jahres 1814, sind schon fast hundert Gedichte entstanden. Ein solches Kreativitätswunder ist in der deutschen Literatur ohne Beispiel.
Was ist denn da mit dem Herrn Geheimrat passiert?
Erklären Sie mal ein Kreativitätswunder (lacht). Das ist das Geheimnis des künstlerischen Schaffens. Der Moment, wo der Funke überspringt, ist unverfügbar. Deshalb bestaunen wir als Außenstehende solche Sternstunden der Menschheit und schauen darauf respektvoll und beglückt.
War es für Goethe eine kulturelle, religiöse oder poetische Erweckung?
Das lässt sich nicht trennen. Zunächst einmal ist es eine poetische, weil er ja poetisch reagiert. Aber gleichzeitig löst die Faszination der Poesie den Drang aus, sich mit der Religion auseinanderzusetzen. Wenn man zum Beispiel das „Buch des Paradieses“ liest, merkt man, wie bestechend Goethe die Idee fand, dass der gläubige Mensch eine Zukunft hat und im Paradies fortlebt. Es ist ein Ineinander von Poesie und Religion – bei Hafis und Goethe.
Mohammed Schemsed-din Hafis lebte im 14. Jahrhundert. Was zeichnet seine Gedichte aus?
Eine hohe Formvollendung. Alle Gedichte sind nach bestimmten Form- und Reimgesetzen konstruiert. Außerdem weist sein „Diwan“ eine bestimmte Struktur auf, so dass unter jedem Buchstaben des persischen Alphabets eine Reihe von Gedichten gruppiert ist. Hinzu kommt die innere Freiheit, mit der Hafis gedichtet hat – obwohl er in einer Zeit lebte, die voll von Katastrophen war, von Eroberungskriegen, Kampf um Territorien, wechselnden Herrschaftsansprüchen. Er selbst war Repressionen ausgesetzt, stand immer wieder unter Häresieverdacht, wurde von den Gesetzeslehrern überwacht, weil er für sie gefährlich war. Dennoch sind seine Gedichte voll heiterer Lebensfreude im Zeichen von Wein und Liebe. Mit seinen 65 Jahren hat Goethe sich davon mitreißen lassen.
Goethes Epoche war auch nicht gerade friedlich …
„Nord und West und Süd zersplittern / Throne bersten, Reiche zittern …“ Das erste Gedicht in Goethes „Divan“ ist nicht nur schöne Poesie, sondern bittere Lebenserfahrung. Goethe betrachtete Hafis als seinen geistigen Zwilling, er verlebendigt ihn geradezu wie einen Gesprächspartner. Im „Divan“ gibt es ja viele Gedichte „An Hafis“. Er spricht ihn in unterschiedlichen Rollen an: als Trinkbruder, als fröhlichen Gesellen, kühnen Häretiker und tiefsinnigen Poeten. Bei Hafis entdeckt Goethe Analogien, die ihn, wie er sagt, „erschaffen und beleben“.
Wie nahe sind Goethes Texte an Hafis’ Gedichte angelehnt?
Goethe nimmt von Hafis Motive auf und verwandelt dann das Fremde ins Eigene. Ohne Hafis wäre das nicht passiert. Er brauchte ein solches poetisches Gegenüber, um selber produktiv zu sein.
Ähnlich dem, was in der Musik als Variation auf ein Thema bezeichnet wird?
Nehmen wir als Beispiel das Gedicht „Selige Sehnsucht“: „Sag es niemand nur dem Weisen / Weil die Menge gleich verhöhnet / Das Lebend’ge will ich preisen / Das nach Flammentod sich sehnet …“ Eines der tiefsten Gedichte, die Goethe je geschrieben hat. Es geht um die Seele, die verbrennen muss, um eins zu werden mit dem Göttlichen. Ein mystisches Motiv – die Selbstaufgabe im Zeichen der Liebe. Und ein schwieriges Thema, denn es könnte als Aufforderung zur Selbstvernichtung missverstanden werden. Goethe übernimmt dieses Motiv von Hafis und heraus kommt ein unverwechselbares Goethe-Gedicht, weil beide eine Affinität zur Mystik haben: „Und solang du das nicht hast / Dieses: Stirb und werde / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde“.
Goethes „Divan“ sei ein politisches Dokument, schreiben Sie. Lag das im Sinne des Dichters?
Ja und nein. Goethe kannte die Tradition der Islamverachtung, ich sagte es. Er wusste, dass er ein Zeichen setzen muss, um einer großen Kultur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nur so ist der Prosateil des „West-östlichen Divan“ zu verstehen. Es ist ja ganz ungewöhnlich, dass ein Dichter seiner Lyrik noch Erklärungen hinzufügt und signalisiert, dass er seine Schulaufgaben gemacht hat. Er wollte seinen Deutschen, die sich in ihrer Kulturverachtung gegenüber dem Orient eingerichtet hatten, deutlich machen, was da an Schätzen zu holen ist. Etwa bei den sieben großen Dichtern der persischen Literatur. Sein „Divan“ ist also gezielt ein politisches Dokument der Kulturaufklärung.
Und das ist es noch heute?
Goethe ist nicht irgendwer in der deutschen Kultur, sondern ein Maßstab. Wenn gerade er einen exemplarischen Dialog zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum nicht nur gefordert, sondern selbst geführt hat, dann bekommen wir doch Kriterien an die Hand. Da müssen wir uns doch nach unserem Islambild fragen. Haben wir uns wie er gekümmert um intensive Koranlektüre auf höchstem wissenschaftlichen Niveau? Haben wir uns so in die orientalische Literaturgeschichte eingearbeitet, wie Goethe glaubte, es nötig zu haben?
Dennoch geht es Ihnen, wie Sie versichern, nicht um „Orient-Schwärmerei“. Worum dann?
Die Wahrnehmung des Orient und der islamisch geprägten Kultur auf ein komplexeres Niveau zu heben – darum geht es mir. Wir haben den Islam heute weitgehend auf ein paar Stereotypen reduziert. Auf Gewalttätigkeit, Frauenfeindlichkeit, Menschenrechtsverachtung und so weiter. Diese Bilder fußen zwar durchaus auch auf Erfahrungen mit der islamischen Welt, aber sie verführen uns zu glauben: Das ist der Islam. Wir haben Goethes Auseinandersetzung mit Orient und Islam noch vor uns.
Goethe taugt also auch heute als Wegbereiter eines Dialogs mit der islamischen Welt?
Davon bin ich überzeugt. Wenn man Goethe überhaupt noch als Maßstab in der deutschen Kultur gelten lässt, dann muss man mit ihm für ein komplexes Islambild kämpfen und streiten. Man muss den Islam so differenziert, aber auch so ästhetisch künstlerisch herausfordernd wahrnehmen, wie er es getan hat. Und am besten sollte man zusammen mit Muslimen Goethe und Hafis lesen und schauen, zu welcher Art von Dialog man in beiden Kulturen schon fähig war. Ganz im Geiste des Dialogdenkmals von Goethe und Hafis in Weimar, des Kalligrafen Shahid Alams, einem Muslim pakistanischer Herkunft, und des West-Eastern Divan Orchestra von Daniel Barenboim. (Interview: Bascha Mika)
https://www.fr.de/kultur/literatur/hafis-goethe-ein-solches-kreativitaetswunder-ist-ohne-beispiel-90782966.html?fbclid=IwAR20ksquITETnq_mSOEi0bmYoSIaYiczAvUnaMEOU-Pg5F2jBHp42TK7Bek