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Die Ontologie Mullā Ṣadrās und der Vorwurf der Ontotheologie

Die Ontologie Mullā Ṣadrās und der Vorwurf der Ontotheologie
Versuch einer Interpretation der Philosophie Mullā Ṣadrās im Lichte der Metaphysikkritik Heideggers

Ahmad Rajabi[1]

Einleitung

Die islamische Denktradition zeichnet sich in ihrer Philosophie im weitesten Sinne nicht zuletzt durch den Anspruch aus, sich auf Vernunft zu stützen und rational begründet zu sein. Die Stellung der Vernunft in der Philosophie zeigt sich vor allem in der seit Aristoteles klassisch gewordenen Forderung, dass das Argumentieren letztlich auf der rationalen Evidenz beruhen muss. Bei Aristoteles wird die Evidenz bekanntlich auf das Widerspruchsprinzip als ein zugleich ontologisches und logisches Prinzip bezogen, was in sich die Einheit – oder genauer – die Zusammengehörigkeit von Sein und Denken darstellt[2]; jene Einheit, die am Anfang des philosophischen Denkens im berühmten Spruch von Parmenides ihren Ausdruck fand: „Denn dasselbe ist Denken und Sein“ (Fragment 3)[3]. Der große muslimisch-iranische Philosoph Avicenna (Ibn Sīnā) hat in seinem Hauptwerk šifā’die von Aristoteles genannte „Erste Philosophie“ ganz konsequent zum ersten Mal ausschließlich als die Lehre vom Sein (vom Seienden als Seienden, auf Arabisch: mawğūd bi mā huwa mawğūd) definiert und die anderen Bestimmungen des Aristoteles in seiner Metaphysik für die Erste Philosophie, nämlich die Wissenschaft von der Substanz, den ersten Ursachen und dem Gott als „die Probleme“ des einzigen Themas, d. h. des Seins, bezeichnet[4]. Damit begründete Ibn Sina in der Philosophie eine Tradition und eine Problemgeschichte, die die gesamte Metaphysikgeschichte prägte und sich vor allem in der islamisch-schiitischen Denktradition als eine einheitliche philosophisch-ontologische Problematik bis Mullā Ṣadrāund sogar bis zur Gegenwart unter dem Einfluss der Ontologie Mullā Ṣadrās fortsetzte. 

In aller Kürze kann die genannte ontologische Problematik so formuliert werden: Wie lässt sich der allgemeinste und allumfassende Begriff des Seins (oder eben des Seienden als Seienden) in Bezug auf die Wirklichkeit fassen, damit der Seinsbegriff nicht als eine leere und bloß logische Abstraktion verstanden wird? In Bezug auf die Philosophie Mullā Ṣadrās- und auch vorwegnehmend hinsichtlich des Denkens Heideggers – formuliert, kann gefragt werden: Lässt sich überhaupt das Sein in seiner spezifischen Einheit irgendwie zeigen, damit dem umfassenden Seinsbegriff etwas in der Wirklichkeit entspricht, obwohl man weiß, dass dieses „etwas in der Wirklichkeit“ keinerlei Seiendes oder Reales sein kann, sondern die Realität oder das Sein überhaupt ist, was allen Seienden zugrunde liegt.

Martin Heidegger nennt dies das Problem der „ontologischen Differenz“, demgemäß – ganz kurz und einfach gesagt – das Sein kein Seiendes ist. Er will in seinem Denken durch eine radikale Verfolgung dieser Differenz die gesamte Metaphysik als „Seinsvergessenheit“ in der Gestalt von „Ontotheologie“ kritisieren. Hingegen ist für Mullā Ṣadrā das Problem des Seins mit seiner wirklichen, d. h. nicht nur rein begrifflichen Einheit derart verknüpft, dass er dadurch zu einer neuen Begründung der Philosophie als Seinslehre in einer fundamentalen Entsprechung mit der mystischen Seins- und Einheitslehre, und in eins damit, mit dem islamischen Einheitsglauben an den einen Gott gelangen will. Die weitreichende philosophische Wirkung Mullā Ṣadrās besteht vor allem darin, dass er durch seine Philosophie bzw. Ontologie die innere Verbundenheit zwischen Vernunft (‘aql), der auf der Offenbarung basierenden Autorität (naql) und der mystisch-geistigen Schau (kašf) begründen will. Diese Begründung kann als das wichtigste rationale Erbe der islamisch-schiitischen Denktradition bis zur Gegenwart bezeichnet werden.

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Philosophie Mullā Ṣadrās nicht historisch-philologisch, sondern gleichsam systematisch, d. h. durch eine sachliche Erörterung im Hinblick auf die radikale Metaphysikkritik Heideggers und in Bezug auf einen besonderen ontologischen Aspekt zu interpretieren[5]. Bevor wir nun unmittelbar auf die Ontologie Mullā Ṣadrās hinsichtlich des Ontotheologie-Vorwurfs eingehen, soll zunächst die Metaphysikkritik Heideggers in ihren Grundzügen skizziert und kurz erläutert werden.

  1. Heideggers Kritik der Metaphysik als Ontotheologie und die ontologische Differenz

Das Denken des deutschen Philosophen Martin Heidegger (1889-1976) gehört zweifellos zu den bedeutendsten, einflussreichsten und auch kontroversesten Philosophien des 20. Jahrhunderts. Sein Denken zeichnet sich nicht zuletzt durch die Radikalität aus, die gesamte Philosophiegeschichte als Metaphysik zu „destruieren“, um darin auf den Ursprung der sogenannten Seinsvergessenheit zu kommen, die er in Bezug auf Nietzsche als den Nihilismus charakterisiert. Die Suche nach diesem Ursprung umfasst alle Perioden seines geistigen Lebens und findet ihren Ausdruck in einem unermüdlichen Fragen nach dem Sinn, der Wahrheit und dem Ereignis des Seins als das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen.

Man kann sehr schwer von der einen Philosophie Heideggers sprechen, denn er versucht verschiedene „Wege“ durch seine Interpretationen der Geschichte der Metaphysik einzuschlagen, die nicht unbedingt eine kontinuierliche Linie aufweisen, sondern jede Periode seines Denkens enthält eine immanente Kritik seiner vorherigen Ansichten. Trotzdem durchzieht die einzige Frage nach dem Sein sein gesamtes Denken. Er sucht das Sein als das ursprüngliche Geschehen der Erscheinung und Unverborgenheit des Seienden in der Anwesenheit zu verstehen; jene Erscheinung, die in sich keine einseitige und ontische Reduktion des Seins auf einen seiendenGrund – im Sinne des ersten und höchsten Seienden – zulässt; sei es der absolute Geist Gottes, der das Sein verursacht bzw. schafft und in sich die Fülle und Vollkommenheit des Seins verwirklicht (in allen Spielarten der vormodernen Metaphysik) oder der menschliche Geist, der das Sein als seine Abstraktion und Reflexion setzt (in allen Spielarten der auf der menschlichen Subjektivität basierenden neuzeitlichen Philosophie). In beiden Fällen wird das Sein mit dem sich denkenden Denken des ersten Seienden gleichgesetzt bzw. darauf gegründet.  Der angesprochene Spruch von Parmenides über die Einheit von Sein und Denken darf nach Heideggers radikaler Metaphysikkritik nicht als eine einseitige Begründung des Seins durch ein göttliches oder menschliches Denken verstanden werden, – was nach Heidegger in der gesamten Metaphysik der Fall gewesen ist – sondern die Einheit von Sein und Denken muss als eine gegenseitige Zusammengehörigkeit, d. h. als eine Korrelation und eine gegenseitige Offenheit verstanden werden. Diese Korrelation verwandelt sowohl die Bestimmung des Seins als auch die des Denkens. Die Offenheit des Seins wird als ein ursprüngliches Wahrheitsgeschehen als die Unverborgenheit in der Anwesenheit verstanden, wobei dieses „An-Wesen“ der Anwesenheit das menschliche Denken an-geht und es an-spricht, d. h. sich dem Denken offenbart[6]. So wird das Denken ebenfalls als eine Offenheit zum Sein verstanden, welches das Sein nicht mehr setzen bzw. beherrschen will und kann, sondern es „begegnen“ lässt, so wie es sich offenbart. So lässt das transzendierende Denken zum Sein das Sein in seiner Transzendenz und Wahrheit erscheinen und reduziert es nicht in der „Reszendenz“ des Denkens auf ein „Gemächte“ des Denkens selbst[7]. Das Denken verwandelt sich dementsprechend von einem setzenden zu einem offenen und begegnen-lassenden Denken.

Weiter unter: Spektrum Iran 1-2022
http://spektrum.irankultur.com/wp-content/uploads/2022/04/Spektrum-36-1.2-2022-Korr.pdf

Die Ontologie Mullā Ṣadrās und der Vorwurf der Ontotheologie

[1]. Assistant Professor, Department of Philosophy, Faculty of Literature and Humanities, University of Tehran, Iran. Email: rajabi.ahmad@ut.ac.ir

[2]. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, IV, 3, 1005a 20 – 1005b 30.

[3]. Vgl. zur Auslegung dieses Fragments: Martin Heidegger, „Moira (Parmenides Fragment VIII, 34-41)“, in:Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 237 ff.

[4]. Vgl. Ibn Sīnā, aš-šifā’, al-’ilāhiyyāt, erste Abhandlung, erstes Kapitel. Die vollkommenen Angaben zu den arabischen Editionen der Werke von Ibn Sīnā und Mullā Ṣadrā stehen am Ende des Beitrags im Literaturverzeichnis. 

[5]. Es ist bereits seit Jahrzehnten nahezu eine Tradition innerhalb der Heidegger-Forschung im Iran geworden, vergleichende Studien zwischen Heidegger und der islamischen Mystik und Philosophie, darunter auch Mullā Ṣadrādurchzuführen. Den Weg zu diesen komparativen Studien hat der berühmte französische Philosoph und Orientalist Henry Corbin (1903-1978) eröffnet. Als erster Übersetzer der Schriften Heideggers ins Französische hat Corbin Heideggers hermeneutische Phänomenologie als einen geeigneten Ansatz für die Idee einer komparativen Philosophie, insbesondere für eine neue Erschließung der islamisch-schiitisch-persischen Philosophie und Mystik angesehen. (Zum Verhältnis Corbins zur Philosophie Heideggers vgl. FelixHerkert, „Heidegger und Corbin – Ansätze zu einer Verhältnisbestimmung”, in: Heidegger Studies 36, 2020, 215-252.)Trotz der annähernden Vergleiche zwischen Heideggers Denken und der islamischen Mystik hat jedoch die radikale und epochemachende Kritik Heideggers an der gesamten metaphysischen Tradition meines Erachtens bislang noch kaum zu einer ausführlichen und sachlichen Auseinandersetzung mit der ontologischen Problematik in der islamischen Philosophie geführt.

[6]. Vgl. Martin Heidegger, „Zur Seinsfrage“, in: Wegmarken, GA 9, 407-412.

[7]. Vgl. Martin Heidegger, „Zur Seinsfrage“, in: Wegmarken, GA 9, 398 – 401.

 

 

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