Wolfgang Gantke
1. Diagnose der religiösen Situation unserer Zeit
Für viele ›religiös unmusikalische‹ Menschen in unserer weitgehend säkularisierten Gesellschaft ist das vergleichsweise große Interesse, das ›weiche‹ Themen wie die zunehmende Faszinationskraft der Wege zur Spiritualität und zur Mystik hervorrufen, kaum nachvollziehbar, weil sich für sie die religiöse Frage gar nicht mehr stellt. Einige Vertreter eines ›kämpferischen‹ Atheismus fühlen sich daher herausgefordert von dem für sie überraschenden Wiedererstarken der Sehnsucht nach religiösen Erfahrungen, die durch das Erscheinen vieler Bücher zu dem inzwischen oft geradezu inflationär verwendeten Begriff der Spiritualität dokumentiert werden.
Sie reagieren darauf mit einer radikalen Religionskritik, die alle Religionen gleichermaßen treffen soll. Religion ist für sie, mit Mao gesprochen, Gift, oder mit Freud gesprochen, eine Illusion, die keine Zukunft hat. In religionswissenschaftlicher Perspektive kann die religiöse Situation unserer Zeit durch eine interessante gegenläufige Bewegung charakterisiert werden: einerseits erzielt ein kämpferischer Atheismus, der behauptet, dass unsere Welt ohne die sich nach wie vor streitenden Religionen friedlicher wäre, eine immer größere Aufmerksamkeit und Überzeugungskraft, während andererseits auf dem religiösen Feld auch die exklusivistischen, fundamentalistischen Strömungen einen immer größeren Zulauf erhalten.
Im gegenwärtigen grundsätzlichen Streit um die Religion bedingen diese beiden Extrempositionen einander und reagieren gleichsam aufeinander. In Zeiten einer zunehmenden religiösen Pluralisierung bei gleichzeitig abnehmenden Verbindlichkeiten stellt sich die Identitäts-, und damit die Orientierungsfrage natürlich in besonders starkem Maße. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass sich die Frage nach einem tieferen Sinn des Lebens jenseits der altbekannten dogmatischen Antwortversuche, seien sie nun religiös oder religionskritisch, vielen nachdenklichen Menschen aufdrängt.
Diese Entwicklung macht auch verständlich, warum sich die Sehnsucht vieler Fragender und Suchender nach einer freien Spiritualität, die an keine dogmatischen Grenzen gebunden ist, weiter ausbreitet.
2. Überlegungen zum mystischen Wahrheitsverständnis
Spirituell kreative Menschen schöpfen vermehrt in kulturübergreifender Weise ihr Erfahrungspotenzial aus verschiedenen religiösen Traditionen und auch aus jenen wissenschaftlichen Strömungen, die die uralte Botschaft der Mystik nicht länger ignorieren. Diese interdisziplinäre und interreligiöse Spiritualität, die an keine kulturellen Grenzen gebunden ist, transzendiert gleichsam den alten Grabenkampf zwischen bekennenden Atheisten und bekennenden religiösen Fundamentalisten, für die nur eine Position oder Religion wahr sein kann und deshalb alle anderen falsch sein müssen.[1]
Im Denkrahmen der traditionellen monotheistischen Religionen war die Wahrheit der Religion zumeist die Wahrheit der eigenen Religion, zumal das Christentum in Europa über eineinhalb Jahrtausende die Religion war, die eine zentrale Stellung in der Gesellschaft innehatte.
Zwar gab es im Untergrund Europas stets auch christliche und ›heidnische‹ spirituelle Schattentraditionen, aber diese hatten angesichts der Vormachtstellung der zumeist machtförmig organisierten ›Heilsanstalten‹ kaum Durchsetzungschancen. Die erfahrungsorientierten mystischen ›Meister des Weges‹ hatten es innerhalb des Christentums nicht immer leicht, aber das scheint sich gegenwärtig zu ändern, wie die Erfolge vieler christlicher Denker beweisen, die sich bemühen, das offenkundige spirituelle Erfahrungsdefizit auszugleichen und damit erkennbar den richtigen Ton der ›Hörer des Wortes‹ treffen.
So hat der Religionswissenschaftler Gustav Mensching innerhalb der religiösen Wahrheit zwischen der rationalen widerspruchsfreien Erkenntniswahrheit als Richtigkeit und der Wahrheit als numinoser Wirklichkeit unterschieden, was letztlich auf eine mystische Lebenswahrheit hinausläuft, die die Subjekt- Objekt- Spaltung überwindet. Er schreibt in seinem Buch ›Toleranz und Wahrheit in der Religion‹: »Die intolerante Meinung, dass nur eine Religion richtig sein kann, und dass alle anderen falsch und unwahr sein müssen, kann man nur haben, wenn man jenen Begriff von Wahrheit im Sinne der Richtigkeit zugrunde legt, wenn man Religionen als die Lösung des Welträtsels wie die eines Rechenexempels ansieht. In diesem Fall kann nur eine Lösung richtig sein und alle anderen sind dann falsch. Aber so ist es eben in der Religionswelt nicht.«[2]
Es ist im Kontext von Ausschließlichkeitsansprüchen interessant, dass in der westlichen Welt lange Zeit sowohl für Atheisten als auch für Monotheisten die Vorstellung von einem personalen Gott als unverzichtbarer Wesensbestandteil von Religion galt.
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http://spektrum.irankultur.com/wp-content/uploads/2020/10/04_Die-Mystik-als-Wiederentdeckung_.pdf
[1] Zur Pluralismus-Diskussion vgl. auch: Gantke, Wolfgang: Das Problem von religiösen Wahrheits- und Absolutheitsansprüchen in der Sicht einer interkulturellen Religionswissenschaft. In: Yousefi, Hamid Reza/Waldenfels, Hans/Gantke, Wolfgang: Wege zur Religion. Aspekte-Grundprobleme-Ergänzende Perspektiven. Nordhausen. 2010, 83-102; Zur Toleranzproblematik: Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion. Heidelberg, 1955; Zur aktualisierenden Weiterführung von Menschings Ansatz vgl. Yousefi, Hamid Reza: Angewandte Toleranz. Gustav Mensching interkulturell gelesen. Nordhausen, 2008.
[2] Mensching, Gustav: Buddha und Christus- ein Vergleich. Stuttgart 1978, S. 242.