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Der Entstehungsprozess des Fatwa-Wesens und dessen gesellschaftliche Ebenen in der schiitischen Welt | Schia-Bibliothek – Universität zu Köln | 25.01.2019

Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

Wir setzten die Diskussion unterteilt in drei Kategorien wie folgt fort:

  1. Definition der Fatwa und deren Komponenten
  2. Entstehungsprozess des Fatwa-Wesens und dessen Phasen
  3. Arten der Fatwa und ihre Bewertung aus sozial gesellschaftlicher Sicht

Erste Kategorie: Definition der Fatwa und deren Komponenten

Die Fatwa ist eine Meinungsäußerung, welche durch eine selbständige Rechtsfindung (Ijtihad) erlangt wird. Sie ist ein religiöses Urteil hinsichtlich eines bestimmten Themas, dessen Ziel es ist auch umgesetzt zu werden .

Eine Fatwa besteht aus drei Elementen:

a. Findung eines Rechtsurteils durch den Mufti mittels Ijdtihad in Bezug auf ein bestimmtes Thema.

b. Verkündung dieses Rechtsurteils

Die drei Elemente der Fatwa:

1. das Erlangen eines Rechtsurteils durch den Ijtihad (eigenständige Rechtsfindung),

2. dessen Verkündung ,

3. dessen Ausführung durch ein oder mehrere Individuen oder einer ganzen Gesellschaft.

Wenn also jemand zu einem Rechtsurteil gelangt, dieses jedoch nicht kundgibt, so kann hier nicht von einer Fatwa gesprochen werden; es ist zwar ein durch den Ijtihad erworbenes Urteil, aber solange es nicht verkündet wird, gilt es nicht als Fatwa. Sollte es dennoch veröffentlicht, aber nicht umgesetzt werden, so ist es lediglich ein Rechtsgutachten keine Fatwa.

Die meisten Mujtahidin (Rechtsgelehrten) bringen in ihren Fiqh-Büchern ihre Ansichten zur Sprache, fordern den Adressaten jedoch nicht auf diese auch umzusetzen.

Entstehungsprozess des Fatwa-Wesens

Dieser Prozess besteht aus folgenden Phasen:

Erste Phase: Entstehung der wissenschaftlichen und moralischen Kompetenz der Person

Die substantiellen und bedeutenden Bedingungen der Kompetenz einer Person zur Fatwaerteilung ist ein wichtiges wissenschaftliches Thema, welchem die Rechtsgelehrten ein eigenes spezielles Terrain zuwiesen. Die Überprüfung dieser Kompetenz ist eigentlich dem Bereich der  islamischen Rechtswissenschaft (Fiqh) zuzuordnen, doch eine Großzahl der Gelehrten befasste sich mit dieser Diskussion über die Usul al-Fiqh Wissenschaft (Prinzipien der Rechtsfindung) .

Die wichtigsten Bedingungen für diese Kompetenz sind aus der Sicht der Rechtsgelehrten folgende:

Erste Bedingung: der Wissendste sein im Ijtihad

Sollte der Wissendste nicht klar erkennbar sein, richtet sich der Vorschlag für die Übernahme der Rolle als Fatwaerteilers auf den Mujtahid, bei dem die Wahrscheinlichkeit besteht, der Wissendste zu sein oder zumindest den anderen Mujtahids gleichgestellt ist.

Zweite Bedingung: Gerechtigkeit

Dritte Bedingung: das sich Fernhalten vom eigenen Ego

Die Erfüllung der ersten Bedingung führt zur wissenschaftlichen Eignung der Person und die nächsten zwei zur moralischen, die Tugendhaftigkeit betreffende.

Erörterung dieser Phasen

Die erste Phase besteht darin, dass sich die Person vor der Übernahme der Rolle eines Muftis dazu verpflichtet sieht, in einer kontinuierlichen Zeitspanne, diese drei Bedingungen zu erfüllen.

Wie schon erwähnt wurde, ist mit wissenschaftlicher Überlegenheit das Erlangen des Ijtihadsvermögens auf höchstem, den Erfordernissen entsprechendes Qualifikationsniveau gemeint. Dieses ergibt sich durch eine permanente wissenschaftliche sowie akademische Präsenz und den entprechenden Aktivitäten sowie durch unaufhörliche Studien und Lektüren hinsichtlich Fiqh und der damit verbundenen Wissenschaften. Gemeint mit „Ijtihadvermögen auf höchstem den Erfordernissen entsprehendes Qualifikationsniveau“, ist die Person, die den Rang des Wissendsten unter ihresgleichen erreicht oder mindestens mit anderen Mujtahids gleichgestellt wird.

Mit moralischer Eignung ist gemeint, dass sich der Mujtahid nicht nur der Bemühung widmet, die Gerechtigkeit in sich einzufleischen, sondern auch notwendige Übungen für den Kampf gegen sein Ego und seine Begierden tätigt, um so sein Gerechtigkeitsgefühl und sein Ego unter Kontrolle zu bringen.

Zweite Phase: Nachprüfung der Bedingungen

Diese Phase beinhaltet aufgrunddessen, dass sie sich außerhalb der Wissenschaft befindet und innerhalb der Gesellschaft Gestalt annimmt, soziale Aspekte.

In vielen Fällen erfolgt die Nachprüfung der Bedingungen nicht durch den Mujtahid selbst; d.h. er ist nicht derjenige, der hervorkommt und kundgibt, dass er der Qualifizierteste sei (obwohl so etwas vorkommen kann). Das, was größtenteils den Nachprüfungsakt der Kompotenzbedingungen ausmacht, geschieht durch die Wissenschaftsgemeinschaft und gelegentlich unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Schichten, ob wissenschaftlich geprägt oder nicht.

Eine hierzu entstehende Frage ist, wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft oder die Gesellschaft im Allgemeinen den Mujtahid nun bezüglich der erforderlichen Bedingungen bewertet hat, obliegt ihm dann das Recht diese Stellung anzunehmen oder auch abzulehnen? Spielt bei dieser Stellung sein eigener Wille auch eine Rolle?

Natürlich spielt der eigene Wille des Mujtahids bei der Übernahme oder Ablehnung dieser Funktion eine Rolle, sogar eine wesentliche. In beträchtlich vielen Fällen zeigen Mujtahids bei dem Vorschlag zur Übernahme der Fatwaerteilung Widerstand. Dieses kann verschiedene Gründe haben. Manchmal möchte jemand die Ehrenhaftigkeit dieser Stellung betonen und ihre Wichtigkeit hervorheben, aber auch um anderen diese Rolle zukommen zu lassen. Es kann auch manchmal vorkommen, dass diese Person sich ihrer schweren religiösen Verantwortung gewahr ist und die Angst vor dieser brisanten Verantwortung – bei der selbst die geringste Verschiebung oder Nachlässigkeit in Bezug auf Aspekte und Bestandteile oder deren Funktion religiöse, religiös gesetzliche und mögliche Folgen im Jenseits nach sich ziehen – ihn dazu zwingt, gegenüber diesem Vorschlag eine aus der Tugendhaftigkeit entsprungene Reaktion zu zeigen.

Was bisher besprochen wurde war „der ernsthafte Prozess über die Wahl des Fatwaerteilers“, welcher auf geschichtlichen Erfahrungen basiert und bis heute existiert; aber das bedeutet nicht, dass immer exakt dieser Verlauf erfolgen muß, denn es besteht die Möglichkeit, dass sich einige für diese Stellung geeignet sehen und mit einem starken Verantwortungsgefühl diesen Bereich betreten, sich dafür zur Wahl stellen und diese Stellung auch übernehmen.

Wenn wir akzeptieren, dass sich dieser Prozess zur Qualifizierung                                                                                                                                                                                                                  eines Mujtahid oder einer Gruppe von Mujtahidin zum Fatwaerteiler innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse ereignet und eine Art wissenschaftlichen Meinungsaustausch zwischen den Mujtahidin herbeiführt, so kann man sagen, dass dieser Prozess, soziale Dimensionen in einer religiösen Gesellschaft hat, von denen einige moralisch und lehrreich sind.

Die dritte Phase zur Realisierung der Stellung des Fatwaerteilers:

Durch die letzten zwei Phasen hat sich nun die Stellung als Fatwaerteiler für den Mujtahid herauskristallisiert. Da diese Funktion darin liegt, die Religion in Verbindung zu den Lebensfragen oder alltäglichen Angelegenheiten zu bringen, besitzt sie eine sehr bedeutende gesellschaftliche Stellung.

Mit anderen Worten, wenn die Fatwas, den Gesetzesurteilen der Scharia und der Religion zugrundeliegen und alle Fragen des Lebens in sich tragen, finden diese eine sehr wichtige soziale Funktion in der Gesellschaft.

Die Stellung der Fatwaerteilung ist eine starke, weitgreifende und funktionsreiche gesellschaftliche Authorität und kann bei der Prägung der Regulierungsprozesse der Beziehungen, Präventierung gewisser sozialer Sachverhalte oder bei der Schaffung bestimmter gesellschaftlicher Situationen enorme Auswirkungen haben und die auf der Einhaltung der Fatwas basierende Lebensgestaltung kann für die Art des Verhaltens in der Gesellschaft hinsichtlich diverser sozialer Phänomäne bestimmend sein und demgemäß ein spezielles aktionistisches System innerhalb der Verhältnisse in der Gesellschaft bei der Konfrontation mit sozialen Phänomänen schaffen.

Arten der Fatwas und ihre Bewertung aus sozialer Sicht

Die Kategorisierung und Einstufung der Fatwas gilt als eine wichtige wissenschaftliche Angelegenheit, deren Praxis bedeutende wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Resultate nach sich ziehen könnte, da diese Kategorisierung und Einstufung einerseits uns das Potential der Fatwas sowie die Tiefe und Ausmaße ihrer potentiellen und aktiven Funktionen im sozialen Raum erkennen lässt und anderseits diese Kenntnisse die Möglichkeit zur Analyse einer „religiösen, Fatwa akzeptierenden Gesellschaft“ erweitert und vertieft und den Hawza Ilmiyyas (schiitische Theologieschulen) Raum bietet, um präzisere Definitionen von den Notwendigkeiten und Erfordernissen jeder Ebene der Fatwas aufzufinden und dementsprechend diese auf einen rahmenvolleren, zielorientierteren, genaueren und mehr von den heutigen gesellschaftlichen und auch virtuellen Räumen profitierenden und den heutigen Bedürfnissen des Menschen kompatibleren Weg zu leiten.

Fatwas sind in einer allgemeinen Kategorisierung in zwei Gruppen einzuteilen:

  1. Individuelle Fatwas
  2. Gesellschaftliche Fatwas

Erste Kategorie: Individuelle Fatwa

Eine individuelle Fatwa ist eine Fatwa, die eine religiöse Anweisung hinsichtlich eines Individuums betrifft.

Die individuelle Fatwa wird jedoch auch in zwei Gruppen unterteilt.

Erste Gruppe: Individuelle Fatwa, welche ein Individuum betrifft.

Wenn einer Person hinsichtlich seiner religiösen Pflicht etwas unklar ist und bei einem Mufti um Rechtsauskunft bittet und dieser ihm die entsprechende Fatwa erteilt.

Zweite Gruppe: Individuelle Fatwa, welche die Individuen der Gesellschaft als Individuen betrifft.

Die Bezeichnung „Individuen als Individuen“ steht im Gegensatz zu „Individuen als Gesellschaft“. Beim Letzteren sind es auch wieder die Individuen, die die Fatwa umsetzen, aber sie besitzen eine gesellschaftliche Essenz und das Ziel eine soziale Bewegung und Orientierung in Gang zu setzen. Aufgrunddessen findet eine Fatwa erst dann ihre geeignete Funktion, wenn alle oder die meisten oder mindestens ein beträchtlich großer Teil der Gesellschaft diese praktizieren. Wie schon erwähnt wurde, ist das Ziel der Fatwaerteilung die Auslösung einer gesellschaftlichen Bewegung, die Orientierung verleiht. Im Gegensatz zu der ersten Bezeichnung (Fatwa betrifft die Individuen als Individuen) ist hier die Fatwa an die Individuen der Gesellschaft gerichtet, doch die in der Fatwa vorhandene Anweisung betrifft eine Frage, die ganz oder meistenteils eine individuelle Dimension hat, wobei die individuelle Pflicht im Vordergrund steht, sodass, wenn nur eine einzige Person nach dieser (Fatwa) handelt, das Ziel zur Fatwaerteilung als erfüllt angesehen wird.

Die auf die Individuen als eine Gesellschaft ausgerichtete Fatwa ist eine soziale Fatwa, worauf wir noch kommen werden.

Der Unterschied zwischen der individuellen Fatwa, ausgerichtet auf das Individuum und der individuellen Fatwa, ausgerichtet auf die Individuen der Gesellschaft (als gesellschaftliches Ganzes) liegt darin, dass trotz gleicher Essenz, bei der ersten es das Individuum ist, das anfragt und die Fatwa nur ihn persönlich betrifft, obwohl diese auch für die Individuen der Gesellschaft von Bedeutung sein könnte, während bei der letzteren der Rechtsgelehrte zuständig ist, der in seiner Risala Amaliyya (Fatwa-Buch) oder in den Medien oder auf seiner Webseite Fatwas für die Muslime erteilt, damit sie sich bei Anfragebedarf auf diese berufen können.

Beachtenswert ist, dass die meisten Fatwas größtenteils individuell gefärbt sind, sowohl individuell auf das Individuum gerichtet als auch individuell auf die Individuen der Gesellschaft gerichtet.

Zweite Kategorie: soziale Fatwas

Dies sind Fatwas gesellschaftlichem Inhalts mit zwei Zielen:

1. Prägung eines gesellschaftlichen Sachverhalts oder einer gesellschaftlichen Orientierung

2. Regulierung oder Ausbalancierung einer rechtlichen Situation (egal ob wirtschaftlicher,kultureller oder politischer Natur) basierend auf der Scharia (islamische Religionsgesetze).

Die gesellschaftliche Fatwa besitzt drei wichtige und wesentliche Ebenen:

Erste Ebene: Gesellschaftliche Fatwa mit allgemeiner nichtrechtlicher Ausrichtung

Dies sind Fatwas, welcher der Mujtahid an die Gesellschaft adressiert ausspricht, um dadurch eine Bewegung und ein Verhaltensschema auszulösen. Der Adressat ist in diesem Fall nicht nur eine Person mit einer persönlichen Lebensangelegenheit, sondern hier ist das Ziel, einen Rahmen für eine Bewegung oder einen sozialen Sachverhalt  zu bilden, so dass , wenn der größte Teil der Gesellschaft dementsprechend handelt eine bestimmte Situation entsteht, wie bei Fatwas zur Verteidigung des Landes, Hilfeleistung bei Erdbeben oder die Boykottierung eines bestimmten Guts etc.

Dies ist die Ebene, welche wir zuvor als Fatwa, ausgerichtet auf die Individuen der Gesellschaft als Gesellschaft angesprochen hatten.

Die zweite Ebene der gesellschaftlichen Fatwa mit rechtlicher Ausrichtung:

Dies sind Fatwas sozialen Inhalts, die zwecks sozialer Einflussnahme in der Gesellschaft in Gesetzesform mit einem oder mehreren Gesetzesartikeln gebracht werden.

Da das Gesetz in einer Gesellschaft gewissen  Erfordernissen und Notwendigkeiten entprechen und demzufolge Funktionen haben muss, so muss der fatwaerteilende Rechtsgelehrte bevor er die Fatwa betreffend des Gesetzes erlässt, die erforderlichen, notwendigen und funktionsbedingten Aspekte genau kennen und das Thema, worüber er eine Rechtsfatwa erlassen möchte. Dazu sollte er zusätzlich auch die Umwandlung des Fatwainhaltes in ein Gesetz genau überprüfen.

Das Gesetz hat in der Gesellschaft eine spezielle Funktion, ist es nicht zu realisieren, dann gerät nicht nur das Gesetz, sondern auch dessen Inhalt (d.h. Fiqh) in die Isolation .

Die dritte Ebene bezieht sich auf soziale Fatwas mit rechtlicher Ausrichtung , welche Auswirkungen auf die Gesetze und das Rechtssystem in einem Institut oder einer Firma, einer Bank, einer Stadt und einer jeden anderen Institution, haben.

Die zweite und dritte Ebene kann im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen, kulturellen, politischen, oder pädagogischen etc. Angelegenheit stehen, aber trotzdem bezieht sich die Fatwa auf die Prägung eines rechtlichen Sachverhalts und auf die Ordnung.

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