Goethe lebte in einer Zeit, in der die ersten Qur’an-Übersetzungen ins Deutsche vorlagen. Darüber hinaus gab es zahlreiche Reiseberichte in die muslimische Welt. So gibt es in den „Noten und Abhandlungen“ zum West-östlichen Divan zahlreiche Verweise auf jene Reiseberichte, insbesondere auf die des Schriftsteller Olearius in den Iran mit seinen ersten Übersetzungen des Golestan von Saadi ins Deutsche.
Als junger Mann wollte Goethe Philologie bzw. Arabistik studieren – sein Vater bestand jedoch auf dem juristischen Studium; zeitlebens bewunderte er die ersten Arabienreisenden (Michaelis, Niebuhr) und las fasziniert alles, was sie über ihre Reisen veröffentlichten.
Goethe war damals Student in Straßburg und wurde Herder und Voltaire inspiriert, und Herder eröffnete ihm einen ersten Blick in die orientalische Welt, der er sich zukünftig immer wieder in verschiedenen Formen näherte.
Im Jahre 1772 beschloss Goethe, ein Gegendrama zu Voltaires „Mahomet der Prophet“ von 1736 zu schreiben, von dem nur zwei Bruchstücke erhalten sind. Jene Bruchstücke gehören zu den schönsten Werken des frühen 23-jährigen Goethe. Das Drama sollte ein Gespräch zwischen Imam Ali (a.) und Fatima (a.) darstellen, was aus den vorliegenden Bruchstücken allerdings nur schwer ersichtlich ist.
„Mahomets Gesang“
Das erste erhaltene Fragment ist heute bekannt unter dem Titel: „Mahomets Gesang“. In dem Gedicht wird Prophet Muhammad (s.) mit dem Bild eines Flusses beschrieben, der aus kleinsten Anfängen in der Einsamkeit langsam seinen Weg in die Heimat findet und dabei alle, die in seinen Weg kommen, alle Quellen, Bäche, alle Flüsse mit sich nimmt und sie zu dem Einen großen göttlichen Vater führt. Der pakistanische Dichter Muhammad Iqbal übersetzte in einem Gedichtband, den er als Antwort auf Goethes West-östlicher Divan geschrieben hat, dieses Gedicht ins Persische und behauptete in der Fußnote, dass es kaum Gedicht gäbe, dass die dynamische Kraft des Prophet Muhammad (s.) schöner ausdrücke als Goethes Worte. Es ist nicht bekannt, ob Goethe bei seinem Text inspiriert war vom schiitischen Gelehrten aus dem 10.Jahrhundert nach Chr. namens Kulaini, der das gleiche Bild verwendete.
„Mahomets Gesang“
Ali:
Seht den Felsenquell,
Freudehell,
Wie ein Sternenblick;
Fatema:
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.
Ali:
Jünglingfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder,
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.
Fatema:
Durch die Gipfelgänge
Jagt er bunten Kieseln nach,
Ali:
Und mit frühem Führertritt
Reißt er seine Bruderquellen
Mit sich fort.
Fatema:
Drunten werden in dem Tal
Unter seinem Fußtritt Blumen,
Und die Wiese
Lebt von seinem Hauch.
Ali:
Doch ihn hält kein Schattental,
Keine Blumen,
Die ihm seine Knie umschlingen,
Ihm mit Liebesaugen schmeicheln:
Nach der Ebne dringt sein Lauf
Schlangenwandelnd.
Fatema:
Bäche schmiegen
Sich gesellig an. Nun tritt er
In die Ebne silberprangend,
Ali:
Und die Ebne prangt mit ihm,
Und die Flüsse von der Ebne
Fatema:
Und die Bäche von den Bergen
Jauchzen ihm und rufen:
Beide:
Bruder!
Bruder, nimm die Brüder mit,
Fatema:
Mit zu deinem alten Vater,
Zu dem ew’gen Ozean,
Der mit ausgespannten Armen
Unser wartet,
Die sich, ach! vergebens öffnen,
Seine Sehnenden zu fassen;
Ali:
Denn uns frißt in öder Wüste
Gier’ger Sand; die Sonne droben
Saugt an unserm Blut; ein Hügel
Hemmet uns zum Teiche! Bruder,
Nimm die Brüder von der Ebne,
Fatema:
Nimm die Brüder von den Bergen
Beide:
Mit zu deinem Vater! mit!
Ali:
Kommt ihr alle!
Und nun schwillt er herrlicher;
Ein ganz Geschlechte
Trägt den Fürsten hoch empor ;
Triumphiert durch Königreiche;
Gibt Provinzen seinen Namen;
Städte werden unter seinem Fuß!
Fatema:
Doch ihn halten keine Städte,
Nicht der Türme Flammengipfel,
Marmorhäuser, Monumente
Seiner Güte, seiner Macht.
Ali :
Zedernhäuser trägt der Atlas
Auf den Riesenschultern; sausend
Wehen, über seinem Haupte,
Tausend Segel auf zum Himmel
Seine Macht und Herrlichkeit.
Und so trägt er seine Brüder,
Fatema:
Seine Schätze, seine Kinder,
Beide:
Dem erwartenden Erzeuger
Freudebrausend an das Herz!
„Gestirnter Himmel“
Das zweite Fragment aus dem geplanten Mahomet-Drama bezieht sich auf den Vers 6:78 im Heiligen Qur’an, wobei es darum geht dass Abraham (a.) die Verneigung vor den Sternen, dem Mond und dann der Sonne ablehnt und sagt: „Ich liebe nicht diejenigen, die untergehen“ und sich zu dem Einen Gott wendet. Das Gedicht ist bekannt unter dem Titel „Gestirnter Himmel“. Er hat damit sehr früh das abrahamitische Gebet wunderbar in deutsche Verse gebracht.
„Gestirnter Himmel“
Teilen kann ich euch nicht dieser Seele Gefühl.
Fühlen kann ich euch nicht allen ganzes Gefühl.
Wer, wer wendet dem Flehn sein Ohr?
Dem bittenden Auge den Blick?
Sieh, er blinket herauf, Gad, der freundliche Stern.
Sei mein Herr du, mein Gott! Gnädig winkt er mir zu!
Bleib! Bleib’ Wendst du dein Auge weg?
Wie? Liebt’ ich ihn, der sich verbirgt?
Sei gesegnet, o Mond! Führer du des Gestirns,
Sei mein Herr du, mein Gott! Du beleuchtest den Weg.
Lass! Lass nicht in der Finsternis
Mich! Irren mit irrendem Volk.
Sonn’, dir glühenden, weiht sich das glühende Herz.
Sei mein Herr du, mein Gott! Leit’, allsehende, mich.
Steigst auch du hinab, herrliche?
Tief hüllet mich Finsternis ein.
Hebe, liebendes Herz, dem Erschaffenden dich!
Sei mein Herr du, mein Gott! Du allliebender, du,
Der die Sonne, den Mond und die Stern’
Schuf, Erde und Himmel und mich.