Zwei überlappend-analogische Begriffe bei Heidegger und Fardid
Ahmadali Heydari [1] |
Einführung
Martin Heidegger (1889-1976) hält Dichter und Denker für diejenigen, mit deren Hilfe die von der modernen Technologie ausgelöste Krise, beseitigt werden könne. Eine Krise, die im Laufe einer langen Geschichte vom Subjektivismus genährt wurde. Die Dichter und Denker sind diejenigen, die ihr Verhalten mit den Dingen, der Erde, dem Himmel und so fort auf Grund der „Gelassenheit“ entwickelt haben. Seyyed Ahmad Fardid (1909-1994) sieht inder Heideggerschen Gelassenheit ein Äquivalent zurendī („Gerissenheit“) in der mystischen iranischen Kultur. Er ist überzeugt, dass die Heideggersche Gelassenheit und die mystische Stimmung von tark-e tark (das Loslassen lassen auf dem Pfad der Liebe) bei iranischen Sufi-Mystikern übereinstimmen. Für ihnbeschreibtder Dichter und Mystiker Hāfez die Merkmale dieses Weges am besten. Hāfez ist der Ausgleichspunkt zwischen den beiden Seiten derjenigen iranischen Kultur, die sich mit den Wortender apollonischen und der dionysischen Mysterienströmung beschreibenlassen.
Während der dionysische Aspektdieser Kultur zu einem mystischen Rausch oder dem sogenannten ‚sokr‘ führt, die die Verlorenheit der Individualität des Menschen und die extreme Entsagung von der Welt zeitigen kann, entsteht andererseits durch den apollonischen Aspekteine Art Disziplinund Achtsamkeit, die jedoch in ihrer übersteigerten Formeinerseits die Unachtsamkeit zu den ursprünglichen Fragen theoretischer Ansätze und andererseits in den Ausbruch von Heuchelei führen mag.
Nach den Worten von Fardid ist die Tragödie [als die Zusammenführung des apollinischen sowie dionysischen Charakters, wie sie sich jedenfalls in den Dichtungen von Hāfez spiegelt]in der Lage, den Rettungsweg für die durch die Modernität in Not geratenen Menschen zu ebnen. Das ist die Würde, die Heidegger den Dichtern zuschreibt, also denjenigen, die in einer Zeit der Heimatlosigkeit und Bodenlosigkeit den Menschen die Möglichkeit eröffnen, einen würdevollen Aufenthalt und eine Heimat zu finden. Aus dieser Sichtbereitet die Philosophie von Nietzsche den Boden vor zur Überwindung dieser Krise, auf die sowohl Heidegger als auch Fardid hinweisen.
Gelassenheit bei Heidegger
Um den Stellenwert von „Gelassenheit“ in unserem Zusammenhang zu verstehen, ist es angebracht, der Vorgeschichte bei Martin Heidegger nachzugehen. Heidegger hat seine „Gelassenheitsrede“ anlässlich der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Todes des Komponisten Conradin Kreutzer (1780-1849) im Jahr 1955 in Meßkirch gehalten, eine Ortschaft, die der Geburtsort von beiden. Heidegger beginnt seine Rede mit folgender Feststellung: „Machen wir uns nichts vor. Wir alle, eingeschlossen diejenigen, die gleichsam von Berufs wegen denken, wir alle sind oft genug gedanken-arm; wir alle sind allzu leicht gedanken-los. Die Gedankenlosigkeit ist ein unheimlicher Gast, der in der heutigen Welt überall aus- und eingeht.“ (Heidegger, GA 16, 517).
Heidegger entwickelt seine Rede, indem er auf den Charakterzug des Menschen eingeht und aufzeigt, dass der Mensch gerade weil er zu denken fähig ist, ihm dieses Denken – wenn auch durch eigenes Versagen – wieder entgleitet:
Gleichwie wir nur deshalb taub werden können, weil wir Hörende sind, gleichwie wir nur darum alt werden, weil wir jung waren, so können wir auch nur deshalb gedankenarm oder gar gedankenlos werden, weil der Mensch im Grunde seines Wesens die Fähigkeit zum Denken, „Geist und Verstand“, besitzt und zum Denken bestimmt ist. Nur das, was wir mit Wissen oder ohne Wissen besitzen, können wir auch verlieren, oder, wie es heißt, loswerden.
Die zunehmende Gedankenlosigkeit beruht daher auf einem Vorgang, der am innersten Mark des heutigen Menschen zehrt: Der heutige Mensch ist auf der Flucht vor dem Denken. Diese Gedanken-flucht ist der Grund für die Gedanken-losigkeit (ibid. 518; kursiv im Original).
Was meint Heidegger, wenn er von Gedankenlosigkeit spricht? Für ihn besteht das Denken zuzwei Teilen: Das rechnende Denken, das jeweils auf seine Weise berechtigt und nötig ist und das besinnliche Denken, das „nichts für die Durchführung der Praxis einbringt“ (ibid. 519). Wenn Heidegger über die Gedankenlosigkeitspricht, führt er deutlich das besinnliche Denken vor Augen und zählt die Besonderheiten dieses Denkens wie folgt auf:
Ein besinnliches Denken ergibt sich so wenig von selbst wie das rechnende Denken. Das besinnliche Denken verlangt bisweilen eine höhere Anstrengung. Es erfordert eine längere Einübung. Es bedarf einer noch feineren Sorgfalt als jedes andere echte Handwerk. Es muss aber auch warten können, wie der Landmann, ob die Saat aufgeht und zur Reife kommt. […]; so brauchen wir denn auch beim Nachdenken keineswegs „hochhinaus“. Es genügt, wenn wir beim Naheliegenden verweilen und uns auf das Nächstliegende besinnen: auf das, was uns, jeden Einzelnen, hier und jetzt, angeht; hier: auf diesem Fleck Heimaterde, jetzt: in der gegenwärtigen Weltstunde. (Ibid.)
Heidegger weistbei der Fortsetzung des Vortrags darauf hin, dass die Herrschaft des rechnenden Denkens den Nihilismus verursacht hat, und zwar in der Weise, dass der Mensch seine Verbindung mit seiner sinngebenden Quelle des Lebens verloren hat. Heidegger betont, dass die Verlorenheit der Bodenständigkeit und Tradition „dem Geist des Zeitalters“ entstammt, „in das wir alle hineingeboren sind“ (ibid. 521).
Quelle: Spektrum Iran – Nr. 3/4-2022
[1]. Associate Professor an der Allameh Tabataba’i University, Tehran, Iran, Email: aah1342@yahoo.de.