Text: Basil Gelpke | Der Basler Islamwissenschaftler und Drogenforscher Rudolf Gelpke (1928–1972) war zeitlebens von der orientalischen Welt fasziniert. Eine Spurensuche, erzählt von seinem Sohn.
Mein Vater starb, als ich neun Jahre alt war. Wenn er sich nicht in Teheran aufhielt, war er meist auf Reisen. Ich erhielt Postkarten von ihm und sah ihn vielleicht drei, viermal im Jahr. «Wenn wir einmal viel, viel Zeit haben, wollen wir mit Kamelen durch die Wüste reiten», schrieb er mir einmal. Er liebte Überraschungen, und manchmal tauchte er unvermittelt und unangemeldet in Basel auf.
Sein kurzes Leben stand ganz im Zeichen seiner Liebe zum Orient, den er sicher auch romantisierte. Obwohl er dessen harsche Realitäten kannte, lag seine Idealisierung vielleicht mehr im Gegenentwurf zur Nüchternheit der Schweizer Heimat als im Orient selbst begründet. Seine Liebe zum Orient ging so weit, dass er sich – immer seiner westlichen Herkunft sehr bewusst – beinahe assimilierte. Seine Tagebücher zum Beispiel schrieb er meist in Farsi. Persisch wurde auch sprachlich zu seiner zweiten, seiner Wahlheimat.
Ein Mann der Sprache
Geboren und aufgewachsen in Waldenburg im oberen Baselbiet als Sohn des Nationalrats und Rheinschifffahrtspioniers Rudolf Arnold Gelpke, besuchte er nach der Matur Vorlesungen über Literatur und Philosophie und reiste viel. Darauf studierte er an der Universität Basel Islamwissenschaften bei Prof. Fritz Meier, einem der besten Kenner sufischer Mystik und orientalischer Handschriften. Mein Vater hatte seine Leidenschaft gefunden. Nach Doktorexamen und Habilitation in Bern begann ein intensives Forscherleben mit Reisen, Expeditionen, Publikationen und Übersetzungen – nicht nur klassischer, sondern auch zeitgenössischer Texte.
Er war ein Mann der Sprache, sein Nachlass umfasst unveröffentlichte Manuskripte, Vorlesungen, Essays und äusserst umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen. Es war eine seiner eigentlichen Lebensleistungen, Verständnis zu vermitteln, kulturelle Unterschiede nicht nur zu benennen, sondern sie in ihrer Kausalität auch zu erklären. Der unvermeidliche Zusammenprall der Kulturen im Zug der sich damals schon deutlich abzeichnenden Globalisierung – Gelpke nannte es die «zunehmende Einheitszivilisation» – ist eines seiner Kernthemen.
So schrieb er in seinem Buch «Vom Rausch im Orient und Okzident» (1966): «Auch wenn der Orientale äussere Formen der westlichen Zivilisation annimmt, so bleiben ihm doch deren innermenschlichen Voraussetzungen fremd. Daraus entstehen jene Spannungen, Konflikte, Widersprüche und chaotischen Zustände, die für den Orient heute so bezeichnend sind.» Nach der «äusseren Verwestlichung der Welt» sah Gelpke auch eine «innere Veröstlichung des Westens» kommen.
Islam und Nationalismus
1962 nahm mein Vater eine Professur für persische Sprache und Literatur an der University of California in Los Angeles an, die er aber kaum ein Jahr später wieder aufgab. Anfang der 1960er-Jahre war Kalifornien das Gegenmodell zum Leben im Orient schlechthin. In dieser Welt der optimistischen Modernität und der akademischen Karrieren fühlte er sich überhaupt nicht wohl: Seine Zeit wollte er dem Studium dessen widmen, was ihn wirklich interessierte – und vor allem zog es ihn wieder in den Iran.
In der Wahrnehmung des Westens war der lslamismus damals noch kein Thema. Man fürchtete viel eher den panarabischen Nationalismus, wie er von Ägyptens Staatspräsident Gamal Abdel Nasser vorangetrieben wurde. 1958 schlossen sich Syrien und Ägypten unter seiner Führung zur Vereinigten Arabischen Republik zusammen. Nasser lavierte geschickt zwischen Moskau und dem Westen, dem er in der Suez-Krise trotz einer militärischen Niederlage einen moralischen Sieg abtrotzte. Doch sein Konzept eines «islamischen Sozialismus» fand bei den – schon damals einflussreichen – Muslimbrüdern keine Gnade.
In einem unveröffentlichten Essay über die Unvereinbarkeit von Islam und Nationalismus beschrieb Gelpke Entwicklungen, die uns heute wieder beschäftigen: «Nur Anhänger nationalistischer Religionen können das eigene Volk als ‹auserwählt› auffassen. Der Islam kennt Derartiges nicht, in ihm wird nicht nach Völkern oder Stämmen unterschieden – sondern stets nur nach ‹Gläubigen› oder ‹Ungläubigen›: Die Gläubigen sind alle Brüder. In ihrer Gemeinschaft sollen Nationalität, Rasse und soziale Herkunft nicht mehr den Ausschlag geben.» Doch der Islam werde «vielleicht eines Tages das Wort von der gewaltigen geistigen Sendung, die er noch zu erfüllen habe, wahrmachen».
Mystische Erfahrungen
Das Motiv, das sich durch das Leben meines Vaters zieht, ist eine spirituelle Suche: nicht nach dem Sinn, eher nach dem Wesen der Schöpfung, der Zeit und nach dem, was sich, wie er oft sagte, «hinter dem Vorhang» unserer normalen Wahrnehmung befindet. Es war der Wunsch nach einer Aufhebung dualistischer, trennender Weltsichten, aber auch nach einer mystischen Erfahrung des Lebens. Auch hier war er ein Übersetzer – von Texten, Materialien, Einsichten und Glaubensbekenntnissen verschiedener Epochen und Kulturkreise.
Letztlich verstand sich mein Vater selbst als Mystiker, der seine Inspiration aus westlichen wie östlichen Quellen bezog. Im Iran tat es ihm vor allem der Sufismus an, der mystische Zweig des Islam, und nach seiner zweiten Ehe mit einer Iranerin konvertierte er 1967 unter dem Namen Mostafa Eslami zum schiitischen Islam. Er interessierte sich für die mystischen Orden, deren Angehörige oft geheim und ganz im Stillen – als Handwerker, Händler, Beamte, Dichter oder Gelehrte – ihr Dasein einer völlig nach innen gerichteten und auf jede Mission verzichtenden Religiosität widmeten. Damit verbunden war für Gelpke eine fundamentale Kritik am Westen und vor allem an dessen entfesselter Fortschrittsgläubigkeit, der für Kontemplation und Spiritualität keinen Raum mehr lasse.
Basil Gelpke
ist TV-Journalist, Regisseur und Filmproduzent. Dieser Text beruht auf einem Vortrag an der Universität Basel, der gekürzt und bearbeitet wurde.