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Henry Corbins schöpferische Annäherung an die schiitische Tradition

Felix Herkert | Einleitung | 

Wie immer man zuden Werken Henry Corbins (1903-1978) stehen mag – dass es sich bei dem Franzosen um einen der großen Pioniere in der Erschließung der spirituellen Tradition Irans handelt, wird kaum jemand bezweifeln; auch nicht, dass Corbin maßgebliche Impulse für eine Verschiebung des Fokus innerhalb der akademischen Disziplin „Islamwissenschaft“ geliefert hat. In jedem Fall markiert sein Werk einen Bruch mit der traditionell eher sunna-zentrischen Sicht auf den Islam an westlichen Universitäten. Man braucht nur einen Blick in seine Histoire de la philosophie islamique (1964) zu werfen, um zu bemerken, welch zentrale Rolle der Schia in der Gesamtstruktur des Buchs – und d. h. in Corbins Gesamtinterpretation des Islam – zukommt. Das Werkbietet, wie verschiedentlich bemerkt wurde, einedurchaus „revolutionäre Lesart der Geschichte des islamischen Denkens“.[2] Als primären Ausgangspunkt des philosophischen Denkens im Islam präsentiert Corbindas „Phänomen des Heiligen Buches“. Derart verstandene Philosophie bleibt in erster Linie ein Ringen um den inneren Sinn der Offenbarung, wobeidie Schia – mit ihrer Imamologie – als eigentliche Hüterin islamischer Spiritualität erscheint. Worum es Corbin in seiner Histoire im Grunde geht, ist, die Geburt der islamischen Philosophie aus dem Geiste der Schia aufzuzeigen.

Forschungsgeschichtlich betrachtet, sind manche Einseitigkeiten in Corbins Präsentation der islamischen Geistesgeschichte zweifellos vor dem Hintergrund seiner Frontstellung gegen gewisse, die Islamwissenschaft über lange Zeit beherrschende Topoi, zu betrachten. Dies betrifft nicht nur jene häufig bemühte, auf Ernest Renan (1852) zurückgehende These, die Entwicklung der islamischen Philosophie sei mit dem Tode Averroes’ gewissermaßen an ihr Ende gelangt[3] – während, wie Corbin nicht müde wurde zu betonen, doch gerade in Iran eine sehr lebendige philosophische Tradition bis ins 20. Jahrhundert hinein bestand.[4] Es betrifft auch die Gewichtung schiitischer Koranexegese innerhalb des Gesamtpanoramas islamischer Koranexegesen. Konnte Ignaz Goldziher in seinem KlassikerDie Richtungen der islamischen Koranauslegung (1920) die Schia noch recht knapp im Kapitel zu den sogenannten „Sektiererischen Koranauslegungen“ abhandeln,[5] lässt Corbin – wie erwähnt – in seiner Histoire de la philosophie islamique die islamische Philosophie und Mystik als solcheaus gewissen Problemen schiitischer Koranexegese entspringen. Die Differenz in Perspektive und Gewichtung des Phänomens könnte größer kaum sein.

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http://spektrum.irankultur.com/wp-content/uploads/2023/01/Henry-Corbins-sch%C3%B6pferische-Ann%C3%A4herungan-die-schiitische-Tradition.pdf

Quelle: Spektrum Iran 3-4-2022

[1]. Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br., E-Mail: felixherkert@aol.com.

[2]. Z. Elmarsafy, Esoteric Islam in Modern French Thought. Massignon, Corbin, Jambet, Bloomsbury 2021, 9.

[3]. Vgl. E. Renan, Averroès et l’Averroisme. Essai historique, Paris ²1861, 2.

[4]. Dabei markiert Averroes’ Denken auch für Corbin eine Art Zäsur, jedoch hauptsächlich für diewestliche (islamische und christliche) Welt: Habe sich dort nämlich schon im Mittelalter Averroes gegen Avicenna durchgesetzt, sei in Iran die avicennische Metaphysik und Kosmologie bewahrtund vertieft worden. Dies ist für Corbin von entscheidender Bedeutung, insofern Avicennas neuplatonisch inspirierte Lehre, die eine bruchlose Kontinuität zwischen menschlichen und engelhaften bzw. göttlichen Intellekten postuliere, als Grundlage einer „prophetischen“ Philosophie bzw. Esoterik dienen konnte, während Averroes’ Aristotelismus hierfür keinen Raum lasse (vgl. H. Corbin, Avicenne et le récit visionnaire, Paris 1979, S. 56ff.; L’Imagination créatricedans le soufisme d’Ibn ’Arabî, Paris 2006, S. 30ff.). So „können die Namen Avicenna und Averroes als Symbole für die geistigen Schicksale aufgefasst werden, die Orient und Okzident beschieden sein sollten“ (H. Corbin, Histoire de la philosophie islamique, Paris 1964, S. 342f.).

[5]. Vgl. I. Goldziher, Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1920, S. 263ff.

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