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Buchbesprechung: Weiße Tinte von Mitra Shahmoradi

Dr. Birgit Gschier * 

Mitra Shahmoradi wuchs in den weiten Ebenen der iranischen Stadt Abadan am Arvand-Fluss, im äußersten Südwesten des Landesauf, nur etwa fünfzig Kilometer vom Persischen Golf entfernt. Abadan war in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts einewirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell florierende iranische Stadt mit einem internationalen Flughafen und vielen Bildungsinstitutionen, welche insbesondere durch die bereits seit Jahrzehnten dominierende Ölindustrie landesweite Bedeutung hatten. Als junge, aufstrebende Kunststudentinbeabsichtigt Mitra Shahmoradi im Alter von nur vierundzwanzig Jahren für einenkurzen, vielleicht einjährigen Studienaufenthalt von Teheran aus nach Österreich zu kommen, umihr Studium der Malerei und Grafik in Wien fortzusetzen. Doch 1980 bricht der 1. Golfkrieg aus und sie kann nicht mehr nach Hause. Der Krieg wird fast ein Jahrzehnt dauern.

In den insgesamt 68 Gedichten und eingesprengelten lyrischen Prosatexten mit neun Tuschezeichnungen zwischen den einzelnen Abschnitten, welche unter dem Titel „Weiße Tinte“, Poesie in drei Sprachen: Deutsch, Persisch, Englisch im Teheraner Verlag Naghd-e-Farhang, im Herbst 2021 erschienen sind,kommt Mitra Shahmoradi immer wiederauf den sie ständig begleitenden Gedanken an das (verlorene) Paradies zurück. Auf die Verdammung des einzelnen Menschen, der Schuld auf sich geladen hat und aus dem Paradies vertrieben wurde. Geographisch und religionsgeschichtlich verortet der deutsche Philosoph und Philosophiehistoriker Kurt Flasch in seinen Werken das Paradies im heutigen Iran und im angrenzenden Zweistromland. Dieser Gedanke an das Paradies und den schmerzhaften Verlust desselben kommt ihr immer wieder in den Sinn, wenn siesich in unterschiedlichen Situationen verloren fühlt, eventuell hängen ihre Lebensängste mit dieser Urangstzusammen. Ständig begleitet sie ihr Heimweh in der Fremde, ihr Wunsch nach Rückkehr und die Reue, das Zuhause verlassen zu haben und die anhaltendeSehnsucht nach der ersten Heimat. Ereignisse im realen Leben, so meint sie,wecken in ihrverdrängte, unbewussteEmotionen und verbinden sich mit ihrem metaphysischen Erleben.Mitra Shahmoradi fragt sich oft: Warum muss es in dieser Welt Hunger geben, wenn es doch so viele Weizenkörner und Apfelbäume im Paradies gibt? Die Dichterin zeichnet immer wieder den Apfel aus dem Christentum und das Weizenkornaus dem Islam in ihren Gedichten nach. Starke Symbole, welchein unterschiedlichen mythischen Erzählungen als die einst auslösenden Gründe für das Verlassen des Paradieses angeführt werden.

Erst nach einer fast zwei Jahrzehnte fortwährenden Schreibblockade wird sie einige Kriegserinnerungen über ihr Land und über Abadan in ihren ersten auf Deutsch verfassten Gedichten verarbeiten. Alle ihre Gedichte in diesem Band hatsieursprünglich auf Deutsch verfasst und sie dann selbst ins Farsi übertragen. Nur das Gedicht „Weiße Tinte“ hatdie  Dichterin gleich auf Farsi geschrieben und nachher ins Deutscheübersetzt. Die englische Übersetzung aller Gedichte und lyrischen Prosatexte wurde durch den US-amerikanischen Autor und Übersetzer Mark Allen Klenk gemacht. So auch die folgende, ihr erzählte, autobiographische Familienanekdote aus der iranischen Stadt Ahwaz während des Krieges (in Auszügen):

er gießt die Blumen

der Himmel ist grau

und auch rot

… es ist Krieg

die Mutter ruft

komm, wir müssen Schutz suchen

er steht im Garten und betrachtet die Blumen

er ist ruhig

er gießt die Blumen

Trennen wird sie aber auch der Krieg und die neuen Lebensumstände in Österreich nicht von der alten persischen Literatur und den Dichterinnen und Dichtern, welche sie in ihrer Kindheit und Jugend gelesen hat. Mit diesem prallvollen Marschgepäckpersischer Dichtkunst und unter ihrem sie „begleitenden Himmel“ wandert sie beherzt und frohen Mutes durch ihre neue Heimat Österreich und stößt des Öfteren auf den Unmut ihrer österreichischen Zeitgenoss*innen. Gedichte? Wer interessiert sich heute noch für Gedichte? Ja, die ältere Generation hat noch die Klassiker wie Grillparzer, Schiller und Goethe in der Schule auswendig gelernt, wie es der Lehrplan vorgesehen hatte. Aber heute? So war Mitra Shahmoradi in einem Land „angekommen“, dass seine eigenen klassischen Dichterinnen und Dichter aus dem deutschen Sprachraum, wie es schien, nur wenig ehrte. Die Mystik, wie sie in der persischen Literatur allgegenwärtig ist, fehlt fast zur Gänze.

Weiter unter: http://spektrum.irankultur.com/wp-content/uploads/2022/09/Buchbesprechung-Weiße-Tinte-Prof.-Mag.-art.-Mitra-Shahmoradi.pdf

Quelle: SPEKTRUM IRAN 35. Jahrgang 2022, Heft 1/2
http://spektrum.irankultur.com/?p=3475&lang=de

* stv. Leiterin Österreichisches Kulturforum Teheran.

www.mitra-strohmaier.com

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